(365.) Der Offizier, der Gentleman und der Sitzplatz

Ein junger Mann mit langen Haaren schlief, vermutlich erschöpft vom Nichtstun oder einem gewöhnlichen, zwölfstündigen Schultag, auf seinem Sitz im Bus ein. Er wurde unsanft geweckt. Nein, eigentlich nicht er, sondern einer, der vor ihm saß.

Ein später Eingestiegener, den er bisher nicht bemerkt hatte und der jetzt neben ihm saß tippte dem vor ihnen Sitzenden energisch auf die Schulter: „Junger Mann! Sehen sie nicht die schwangere Frau? Jetzt stehen sie schon auf und machen ihr Platz!“ Überrascht und vielleicht auch, wie unser Aufgeweckter, noch verschlafen, machte dieser Anstalten, dem in schnarrendem Befehlston gegebenen Anweisungen Folge zu leisten.

Tatsächlich stand eine junge Frau mittleren Raum des Linienbusses und spähte auch nach einer etwaigen Sitzgelegenheit. Zweifelsohne ein netter Zug, ihr einen solchen Platz anzubieten. Aber doch nicht so! So rasch es die beengten Verhältnisse zuließen stand unser junger Held auf: „He, bleib sitzen! Ich steh auf. Gerne. Wenn schon der Heereskommandant das nicht selbst kann. Sondern nur Befehle bellen.“ Und mit diesen Worten versuchte er sich, an dem Uniformierten vorbei aus der Enge der Sitzreihe heraus zu zwängen.

Der reagierte ungehalten: „Ich bin von Major der Luftwaffe! Und die junge Frau kann doch unmöglich hier in dieses Eck!“ Glücklich am lautstarken Offizier vorbei wandte sich der junge Mann ihm zu und sagte: „Na, da müssen sie sich halt auch mal bewegen, Herr Fregattenkapitän! Nicht nur den Schießbefehl geben und hinterher sagen, man sei ja nicht selbst Täter gewesen!“

„Wie können sie so mit unseren Vaterlandsverteidigern sprechen, gehen sie doch nach drüben,“ fauchte jetzt der Stein des Anstoßes, die Schwangere, den Sprecher an. „Ach so,“ meinte dieser, „so sehen sie das, so eine sind sie! Wohl auch zu oft Offizier und Gentleman gesehen und ähnlichen Schmarren. Na, vor dem Zeugen kleiner zukünftiger Soldaten verhütet die Vaterlandsverteidigung wohl nicht, eher im Gegenteil. Vielleicht gibt’s ja dafür so einen Mutterorden?“ Eine Antwort war nicht nötig, denn jetzt bremste der ebenfalls stolz seine Uniform tragende Busfahrer abrupt, die Schwangere stürzte, und der enragierte Fahrzeuglenker brüllte los, dass er keine Revoluzzer in seinem anständigen Fahrzeug dulde. Der Aufständige solle doch gefälligst aussteigen. „Aber liebend gern! Ich habe keine Lust, weiter mit dieser Faschistenkutsche mitzureisen in den nächsten verlorenen Weltkrieg, nachdem es dann alle schon immer besser gewusst haben! Wenn ich weg bin könnt ihr ja eine kleine Soldatenproduktionsorgie beginnen! Dass ich mein Fahrgeld zurückbekomme brauche ich ja nicht zu glauben, in Raub und Diebstahl waren die selbsternannten Anständigen ja schon immer gut!“ Damit stieg der Gemeinte aus, schrie noch etwas durch die sich bereits schließenden Türen, das klang wie: „Rüpel müssen hobeln für den Sieg!“

Das weitere Schicksal des Omnibusses und seiner Insassen ist uns nicht bekannt. Der junge Mann aber ging recht beschwingten Schrittes los und wurde erst nach ein paar Kilometern langsamer und dachte: „Hätte ich nur nichts gesagt. Ich hätte bis zu Hause weiterschlafen können, der andere hätte aufstehen und womöglich strammstehen müssen und alle hätten innerlich dem hauptberuflichen Menschenherumschubser applaudiert und gedacht, wie gut es doch sei, dass wir wieder und immer noch eine funktionierende Wehrmacht haben! Solch endlich uniformierte Bürger, die noch wissen, was richtig und was falsch ist, was also die anderen zu tun haben.“ Ich weiß, was er gesagt und gedacht haben will, denn er hat es mir selbst erzählt. Und noch viel mehr.

Wir saßen wieder einmal an jenem Tisch in unserer Stammwirtschaft und er hatte mir mit dieser Geschichte doch einmal etwas aus seinem Leben erzählt, weniger aus dem der vielen Menschen, mit denen er zu tun gehabt hatte. Das freute mich, und ich sagte ihm das auch. Dann nahm ich mein Glas, um einen Schluck zu nehmen. Und fragte ganz beiläufig: „Eine eindrucksvolle Erinnerung. Eines bereits früh entschlossenen Pazifisten. Und das ist alles genau so abgelaufen, wie du es mir erzählst? So passiert, wie du dich hier erinnerst?“ Er wandte sich ab und trank sein Bier leer. Bestellte ein Neues. „Mir auch noch so einen trockenen Roten,“ rief ich. Als er sich mir zuwandte, murmelte er: „Genau so. Habe ich mir das damals vorgestellt. Ich trete für die richtige Sache ein. In Wirklichkeit habe ich mich erschrocken. Bin aufgewacht von dem Kasernenhofton, die Situation begriffen, die Augen zusammengekniffen und weiter vor mich hingeträumt. Diesen Wachtraum.“ Ich nickte: „Na, siehst du. Deshalb schreibe ich auch lieber diese Geschichten auf. Weil sie in Wirklichkeit weniger dezidiert, weniger klar rüberkommen, als auf einem unschuldweißen Blatt, der berühmten Tabula rasa, die alles erduldet.“

(die Geschichte korrespondiert lose – die gleichen Gesprächspartner sitzen da herum – mit 224. Und auch 373. erzählt derselbe, wenngleich das Thema ein anderes ist.)

Autor: gerlintpetrazamonesh

Ich schreibe Texte und veröffentliche sie. Selbstverständlich, bitte beachten, unter Copyright, also keine gewerbliche Verwendung ohne Einverständnis, private Verwendung gestattet, aber mit Nennung des Autors! Da bin ich stur, es mag ja sein, es ergibt sich noch die eine oder andere Möglichkeit, einen meiner Texte ( um nur die Naheliegenden zu erwähnen: Literaturnobelpreis, Hollywood...) weiter zu verwenden! Selbstverständlich, nicht wahr. So selbstverständlich wie der Autorenname, wie sich der eine oder andere gleich gedacht hat, wie man heute sagt Fake ist, so ein P-Name - ganz ehrlich, so heiß ich nicht, nicht richtig, nicht wirklich. In dieser Realität, z.B. in Ausweispapieren. Aber hier, für meine Geschichten, da nennt mich Petra. Nur der Vollständigkeit halber, die Person auf dem Bild, und hier muß ich mit der Änderung des Bildes schnell auch den Text ändern, das bin nicht ich, sondern mein selbstgewähltes Wappentier, nebenbei schon seit Kindertagen. (Vormals lautete der Text zum da noch passenden ersten Bild, na ja, halt auch so ein Vierbeiner, im Blog: die Dame vom See, das bin auch nicht ich und es ist nur ein Gerücht, dass sie mir einen Füllfederhalter namens Excalibur aus dem Gewässer apportierte. Aber das war ja auch ein Hund, ein richtiger Hund - auch mein Hund (hätte ich sie Morgana le Fay nennen sollen? Vielleicht den Nächsten) - an einem Alpensee, der, nein, die, die hätte das auch gekonnt, nämlich Excalibur apportieren, so ein toller Hund!) Bestimmt schreibe ich auch über sie mal was, aber: Dackel, um das klarzustellen, sind keine Hunde. Zumindest nicht im herkömmlichen, landläufigen Sinn. Dackel sind Wesen höherer Art, wobei boshafte Menschen oft auch einwenden: niedrigerer Art. Aber dazu in ungefähr, also keine Sorge, jedem 100. Textbeitrag mehr! Also gleich im ersten, ersteingestellten, der hier der automatischen Reihung nach der Allerletzte ist. Was jeder Dackel gleich versteht.

3 Kommentare zu „(365.) Der Offizier, der Gentleman und der Sitzplatz“

    1. Ich denke – die Zeit dieser Geschichte ist, wie ersichtlich, ja schon ein paar Tage her – dass so ein Bus sämtliche NATO und WP – Offiziere einsammelt und dann weiterfährt über die ganze Welt, die gibt es nämlich überall…

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