Muriel lebt nicht mehr
Als ich ihn besuchte, war er sehr traurig. Er öffnete auf mein Klopfen hin nicht einmal die Türe, die aber wie immer nur angelehnt war. Ich trat ein und rief. Schließlich will man niemanden in seinem Haus einfach so überfallen! Das ist unhöflich und auch gar nicht erlaubt, was in manchen Berufssparten offenbar noch nicht in die Grundausbildung aufgenommen ist. So bei manchen Handwerksberufen, bei Einbrechern, Hausierern, Kriminalbeamten zumindest in den Filmen… Aber ich war kein Polizist und in diesem herabgekommenen Haus hätte ich auch als Einbrecher keine Schätze vermutet.
Das heruntergekommene alte Haus gehörte einer alten Dame. Die den verschrobenen Kauz bei sich wohnen ließ. Peterchen sagte sie zu ihm, dabei war Peter ein großgewachsener, kräftiger Bursche. Der irgendwann hier in der Gegen aufgetaucht war, keiner wusste, woher er kam. Zunächst hatte er in offenstehenden Scheunen übernachtet, war von dort immer wieder vertrieben worden, bis ihn Muriel, die alte Frau, die alleine in dem allmählich verfallenden Gebäude lebte, bei sich aufnahm. Manche Bauern hatten auch versucht, Peter für sich arbeiten zu lassen, aber er war zu den meisten Tätigkeiten nicht fähig gewesen, hatte steter Aufsicht bedurft, seine Fähigkeiten waren doch recht eingeschränkt. Doch Muriel kam mit ihm klar. Irgendwann hatte sie sich bei mir gemeldet, denn Peter hatte Krampfanfälle. Die freilich schon vorbei waren, als ich ankam.
Er hatte Krampfanfälle und keine Krankenversicherung. Das war ja klar! Ich versuchte, ihn gleichwohl zu überreden, ein Krankenhaus aufzusuchen. Bestimmte Untersuchungen waren jetzt angezeigt, doch was soll man tun? Er wollte nicht.
Ich versprach, wiederzukommen. Das war durchaus erwünscht, doch waren wir uns alle darüber einig, dass ich wieder versuchen würde, den Patienten einer geeigneten Diagnostik zuzuführen.
Doch nicht deshalb saß Peter auf seinem Bett und starrte vor sich hin. Zuerst dachte ich, er hätte irgendwelche Drogen genommen. Getrunken, denn das war eine meiner Vermutungen, was seine Anfälle, die ich ja nicht hatte beobachten können, hervorrufen konnte. Ach, ich wusste viel zu wenig über ihn, kannte seine Vorgeschichte nicht! Da stochert man eben im anamnestischen Nebel, weitaus weniger ergiebig, als die berühmte Suche im doch eher begrenzten Heuhaufen sonstiger, mehr oder weniger wahrheitsgemäß beantworteter Nachfragen.
Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich. Fragte wiederholt, denn auf meine Begrüßung und ersten Fragen hatte ich keine Antwort erhalten, was los sei. „Sie lebt nicht mehr,“ kam es endlich tonlos und sehr leise. Man kann sich denken, wie ich erschrak, aber er hob seinen Arm, zeigte auf etwas, das in eine Decke gewickelt dalag. Ich schrie auf: „Muriel!“ Er nickte. Neugierig schlug ich die Decke zurück. Es war die Katze, die schon seit langem hier gelebt hatte und auch auf den Namen Muriel gehört hatte. Gehört, wie es eben Katzen tun, sie ahnte, dass sie gemeint war, wenn eine Verbindung zu Katzenfutter bestand. Ansonsten hatte sie ihr halbwildes Leben gelebt, hatte Birkenmaus und Gartenschläfer, Käuzchenästling und Waldamsel getötet. Das arme Tier war gestorben, wie es gelebt hatte, es wies heftige Bisswunden auf, war wohl einem Fuchs, Dachs oder, am wahrscheinlichsten, einem wildernden Hund in die Quere gekommen.
Denn das Haus war ein ganzes Stück vom Dorf entfernt am Waldrand gelegen.
Für Muriel, die alte Dame, war Peter eine echte Hilfe, denn Besorgungen und vor allem das Beheizen des alten Gemäuers, das selbstverständlich über urige Holzöfen verfügte, war ihr zunehmend schwergefallen. Da gab es Tätigkeiten, die selbst jemand wie Peter gut übernehmen konnte. Holzhacken und -schleppen, mit einem Korb und einem Zettel zum dörflichen Einzelhändler gehen, denn der Händler konnte ja lesen, all das übernahm er. Doch jetzt saß er da und schweig. Die Trauer und das bei all seiner Selbstverständlichkeit Unbegreifliche des Todes hatten ihn überwältigt.
„Wir müssen Muriel beerdigen,“ sagte ich schließlich, fast ebenso tonlos wie Peter. Der nickte wieder, rührte sich aber nicht. Schließlich fasste ich ihn an der Schulter, fragte auch noch: „Weiß denn Muriel davon? Also, dass die Katze, dass Muriel tot ist?“ Weiter schwieg er reglos, und jetzt rüttelte ich ihn ein wenig. Der stämmige Kerl rührte sich kaum. „Komm jetzt. Wir müssen arbeiten. Die Katze begraben.“
Endlich brachte ich ihn dazu, aufzustehen. Schwerfällig folgte er mir, denn ich ging mit der Decke und der darin eingewickelten Katze voran. Draußen aber nahm Peter Werkzeug aus dem Schuppen und übernahm mit einem Mal die Führung. Er führte mich ein ganzes Stück weit in den Wald bis zu einer Lichtung und sagte schließlich: „Hier. Muriels Lieblingsplatz.“ Es war ein hübsches Plätzchen, die Sonne schien durch die Bäume, und ich nickte.
Wir begannen zu graben. Als die Grube mir ausreichend groß schien, wollte ich schon die nebenan wartend liegende Katze holen, legte meine Schaufel beiseite. Doch Peter schüttelte den Kopf: „Weiter. Wir müssen weiter graben, größer! Die Grube muss größer werden!“ Fragend sah ich ihn an. Doch Peter grub eifrig und ich bekam keine Antwort. Etwas lustlos half ich ihm, wenn er überzeugt war, dass es so richtig war, warum nicht! Doch allzu lange machte ich das nicht mit, reckte mich, verlangte, dass wir etwas zu trinken bekämen und äußerte entschieden, dass es genug sei.
Peter schüttelte den Kopf. Murmelte etwas. Ich beugte mich vor und fragte: „Was hast du gemeint? Noch größer? Warum?“ „Muriel muss ins Grab.“ „Aber das reicht doch für die Katze!“ „Nicht Katze.“ „Was?“
Peter sah mich direkt an. Ich begriff, und sah auch, dass er dies verstanden hatte. Dass ich seine Beweggründe nachvollzogen hatte, dass er nicht nur die Katze Muriel gemeint hatte. Und ich war schneller. Ich bemerkte die Bewegung, begriff auch dies: Dass er begann, mit der Schaufel für einen Schlag auszuholen, sie hochzuschwingen, und sprang aus der nun schon erheblich angewachsenen Grube! Wich aus und rannte, rannte bis zum Haus, bis zu meinem Auto, sprang hinein und fuhr davon!
Nein, ich habe nicht nachgesehen, ob das stimmte, was mir mit einem Mal klar auf der Hand zu liegen schien. Nicht nur die Katze Muriel war also tot, nein, auch Muriel, die alte Frau, der das Haus gehört hatte! Und Peter, so wie er reagiert hatte? Peter war womöglich ein Mörder. Hatte sie getötet.
Hatte er nicht mich zu töten versucht?
Mein Weg führte mich zur nächsten Polizeistation. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Ich erzählte meine Geschichte, sah den Zweifel in den Augen der Beamten, die natürlich mit so einer Räuberpistole nicht viel anfangen konnten. Entweder ich war nicht ganz bei Trost, das würde Ärger und Arbeit bedeuten, oder an meiner Story war etwas dran, ja, dann war das erst recht der Fall! Wer möchte schon so etwas kurz vor Schichtwechsel, der Kaffee läuft grad durch und ein Kollege hat versprochen, dass er etwas Nahrhaftes beisteuert. Nein, das braucht man nicht. Außerdem ist es ja nicht die Zuständigkeit der nächsten Polizeistreife, nein, in so einem Fall würde schon die Kriminalpolizei ermitteln!
Das war dann auch der nächste Schritt. Ein Anruf dort, ein Kommissar würde sich, sobald er Zeit hätte – dort war vielleicht auch Schichtwechsel – melden. Inzwischen sollte doch mal nachgesehen werden, ob an meinen Angaben etwas Überprüfbares dran sei.
Immerhin, ich bekam auch eine Tasse Kaffee. Und wartete. Tätigte meinerseits ein paar Telefonate. Schließlich saß ich hier fest.
Nach recht kurzer Zeit meldeten sich die Polizisten, die tatsächlich eine tote Katze in einer Grube gefunden hatten. Allerdings hatten sie weder Peter noch Muriel, die Frau, antreffen können.
„Ich gehe davon aus, dass sich Peter versteckt. Er ist durch meine Reaktion und die Polizeistreife bestimmt verstört! Keine Ahnung, was er in seiner Verwirrung denkt!“ Der Dienststellenleiter sah mich eigenartig an, als ich das gesagt hatte. Und fragte mich: „Machen sie sich jetzt etwa Sorgen um den Kerl, der sie beinahe mit einer Schaufel niedergeschlagen hätte?“ „Ja, klar! Das ist mein Job. Und vor allem: Wenn er so verstört ist und sich nicht zu helfen weiß, wer kann schon ahnen, was er noch anstellen könnte!“
In diesem Moment hatte ich eine Eingebung. Ich nickte mir selbst bestätigend zu und sprach weiter: „Und überhaupt, jetzt, wo ich ruhiger überlegen kann – eigentlich halte ich Peter nicht für einen Mörder, zumindest nicht für einen eiskalten, planenden. Mich wollte er niederschlagen, ja, das war offensichtlich, davon gehe ich aus, aber doch nur, weil er sich nicht anders zu helfen wusste! Wer weiß, was passiert ist. Wer weiß, ob Peter selbst Muriel überhaupt etwas getan hat. Aber er wusste halt nur, dass sie begraben werden muss, dass es Ärger bedeutet, wenn man ihn mit einer Leiche zusammen findet, alles andere hat ihn überfordert.“ „Sie haben aber die alte Frau nicht gesehen? Nicht lebend, nicht ihre Leiche?“ „Nein, ich habe sie nicht mehr gesehen. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass sie selbst das Haus verlassen hat. Ich denke schon, dass meine Annahme stimmt, dass sie irgendwo dort liegt. Vermutlich tot.“
Nun suchten die Polizisten gründlicher. Und fanden. Muriel lag auf ein paar Säcken, zugedeckt mit einer alten Decke, im Schuppen. Dankenswerter Weise überprüften die Polizisten die Vitalfunktion und stellten fest, dass Muriel bewusstlos, aber nicht tot war. Noch nicht. Alarmierten den Rettungsdienst. Allerdings war es zu spät, Muriel starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Sie hatte das Bewusstsein nicht mehr erlangt.
Die Suche nach Peter wurde jetzt intensiviert. War aber zunächst erfolglos. Einige Tage später wurde er ein paar Gemeinden weiter aufgegriffen. Er wanderte dort mit seinem kleinen Bündel, mehr hatte er nicht dabei, eine kleine Straße entlang. Auf die Fragen der Polizisten gab er keine Antwort. Ein Kommissar, ein Polizeipsychologe, alle schwieg er eisern an.
Letztlich war das ja gar keine so dumme Reaktion. Was sollte er denn mit den Fragen dieser Leute anfangen? Dieser Leute, die ihn festhielten und einsperrten.
Vorerst ging die Polizei davon aus, dass Peter Muriel getötet hatte. Oder dass es ein unglücklicher Unfall war. Sie war verletzt, aber diese Verletzungen rührten von einem Sturz her, sie war wohl eine Treppe hinabgefallen und ob dies nun nur durch Ungeschicklichkeit oder mit fremder böser Hilfe geschehen war konnte so nicht mehr aufgeklärt werden.
Ich hatte mein Erlebnis schon fast zwar keineswegs vergessen, aber doch sehr über andere Tagesereignisse in den Hintergrund gedrängt, als mich der Kommissar, der in dieser Angelegenheit ermittelte, ansprach. Ja, natürlich war ich bereit, noch einmal mit Peter zu sprechen!
Und Peter freute sich, mich zu sehen. Ich hatte ihm seinen Lieblingskuchen mitgebracht, wusste ja noch, welcher das war. Linzer Torte liebte er, vielleicht auch deshalb, weil er die auf seinen ziellosen Wanderungen ganz gut mitnehmen hatte können. Kaffee, selbst den süßte Peter noch ausgiebig, bekamen wir von den freundlichen Uniformträgern vor Ort. Dann fiel die Türe ins Schloss.
Aber wir waren nicht allein. Eine Wächterin lehnte an der Wand. „Das hat doch keinen Sinn,“ beklagte ich mich, „Peter will mir bestimmt nicht erzählen, wie es ihm geht, wenn wir hier einen Beobachter haben!“ Und erst nach weiterem Insistieren meinerseits, vorgebrachten Bedenken seitens der Polizisten war ich schließlich alleine mit Peter.
Anders als Peter bemerkte ich freilich das blinkende Lämpchen an dem Tischmikrofon. Man wusste, was wir sprachen, das war hier vermutlich so Usus, ich war ja auch kein Anwalt, der hier irgendwelche Rechte einfordern konnte. Was Peter erzählte, mochte aufschlussreich sein, ich hatte also auch keine Einwände.
Die Polizei ihrerseits war auch nicht untätig. Immerhin war inzwischen bekannt geworden, wer das Haus dort draußen erbte. Es war eine junge Familie, die zwar den Platz brauchen konnte, aber in diese alte Hütte nicht einziehen würde. Vielmehr verkauften sie das Grundstück an einen ortsansässigen Bauunternehmer.
Ging es dem Kommissar wie mir? Ich jedenfalls wurde hellhörig, als ich das erfuhr. Und besuchte Peter, aus dem ich bei meinem Besuch auch nicht eben viel Herausbekommen hatte, gleich noch einmal. „Sag mal, Peter, hat einer dieser Leute Muriel besucht,“ fragte ich ihn und zeigte ihm dazugehörige Fotos. Der Bauunternehmer war bekannt und sein Bild im Ortsanzeiger zu finden und Fotos der Familie hatte ich auch, denn auch die hatte ich besucht. Und ihnen zu ihrem Verlust mein Beileid ausgesprochen. Zunächst wussten die Leute gar nicht, von was ich sprach, erst als ich Muriel und ihr Erbe ansprach, begriffen sie. Aber besucht hatten sie die entfernte Verwandte nie. Sagten sie zumindest. Das Foto? Ach, das habe ich stibitzt. Es stand da klein und gerahmt auf einer Anrichte und als ich alleine war, war ich so frei.
Auch Peter verneinte Besuche dieser Personen. Er habe da nichts mitbekommen. Wer aber dagewesen sei, das sei der Bürgermeister gewesen. Er, Peter, habe sich versteckt, als dieser zusammen mit einer Frau gekommen sei. Sie hätten einen Blumenstrauß dabeigehabt.
Ja, der sei für Muriel gewesen. Zu einem Geburtstag, einem runden. Einer hohen, einer unvorstellbar großen Zahl, das wusste Peter noch. Dann seien diese Leute wieder gegangen und Muriel habe sehr schlechte Laune gehabt. Irgendetwas, das der Bürgermeister zu ihr gesagt habe, habe sie verärgert. Der sei auch nicht wiedergekommen. Aber diese Frau, die ihn begleitet habe, die schon.
Nun, ich bin weder bei der Polizei noch beim Geheimdienst und ein Privatschnüffler nach Art eines Hercule Poirot, eines Sherlock Holmes, einer Miss Marple (oder eines Schafes namens Maple) oder Lisbeth Salander bin ich nicht und will ich nicht sein. Ich hatte genug gehört und erzählte all das dem Kommissar.
„Sie glauben also nicht mehr, dass Peter die alte Frau getötet hat,“ fragte der mich. Ich lächelte etwas verlegen: „Nein, oder vielmehr: das dachte ich nur im ersten Moment, als ich so erschrocken bin. Danach kamen mir ja gleich Zweifel. Ich meine aber, sie sollten herausfinden, wer diese Frau ist, die da Besuche machte.“ „Vielen Dank, dass sie mir meinen Job erklären!“ „Ach bitte, nein! Entschuldigen sie mein vorlautes Vorpreschen. So doch nicht, so hab ich das nicht gemeint. Aber ich habe halt etwas Interessantes erfahren! Da kann der Normalbürger, nicht unbedingt täglich mit kriminellen Akten konfrontiert, doch mal etwas überschwänglich reagieren!“ „Schon gut. Das sollten wir wirklich überprüfen. – Und natürlich alle anderen, die dort zu Besuch waren. Sie etwa!“ „Na, das haben sie doch schon. Als das Unglück geschah, war ich nicht dort.“ „Sagen sie.“ „Sage ich. Und meine Arbeitszeiten geben das auch nicht leicht her!“ „Stimmt. Nicht leicht. Sie hätten aber dort sein können!“ „Und dann hätte ich kein Motiv.“ „Auch da stimme ich zu. Es könnte aber spontan geschehen sein, ein Unfall mehr, kein absichtlicher Mord!“ „Und ich lasse dann eine Schwerverletzte liegen? Bitte!“ „Möglich wär’s.“ „Möglich ist es. Dass ich ein Monster bin. Aber wie wahrscheinlich?“ „So wahrscheinlich, dass wir sie bisher noch nicht verhaftet haben. Aber ihre ständige Neugier in dieser Sache, ihre Suche nach einem alternativen Täter ist doch auffällig!“ „Hören sie mal! Ich bekomm beinahe eine Schaufel auf den Kopf…“ „Sagen sie. Und sitzen dann, ganz allein, in aller Seelenruhe mit dem angeblichen Gewalttäter zusammen! Dem sie Kuchen mitbringen.“ „Ach je. Sie sind doch Polizist! Wie viele Leute reagieren über, wenn sie in einer Krise stecken. Peter ist nicht gewalttätig, er wusste sich nur nicht mehr zu helfen! Solche Leute habe ich ständig. Die nicht eben über viele angemessene Reaktionsmöglichkeiten verfügen und dann kurz mal aushaken, die gemeinsame Basis zivilisierten Handelns verlassen – das kennen sie doch! Das ist doch vermutlich die Ursache der meisten Gewaltverbrechen.“ „Sie erklären mir schon wieder meinen Job.“ „Und sie bezweifeln meinen. Meine Professionalität.“
Immerhin kam Peter in ein Heim statt in ein Gefängnis. Endlich konnten seine Krampfanfälle medizinisch abgeklärt und angemessen behandelt, er medikamentös eingestellt werden. Und der Kommissar fand natürlich heraus, wer die Frau war, mit der der Bürgermeister bei Muriel war. Es war eine Mitarbeiterin der Gemeinde, eine Frau List – Dungacker.
Und ja, seinerzeit hatte der Bürgermeister Muriel gefragt, ob sie nicht lieber in das in Bau befindliche nagelneue Altersheim im Ort ziehen wolle. Und ihr Haus verkaufen. Das hatte die alte Dame so verärgert! Sie hatte auch gefragt, was dann mit Peter sei, worauf der Bürgermeister unwirsch geantwortet habe: „Der ist doch gar kein Bürger unserer schönen Gemeinde!“ Seine Mitarbeiterin hatte sich bereit erklärt, Muriel wiederholt zu besuchen und sie in die gewünschte Richtung zu bearbeiten. Immerhin war sie die Schwägerin der Frau des Bürgermeisters. Die ihrerseits die Schwester des Bauunternehmers Dungacker war.
Ob sie auch an dem Tag einen Besuch gemacht habe, an dem Muriel verunfallt sei? Bemüht sah Frau List – Dungacker in ihrem Terminplan nach und bestätigte das. Doch selbstverständlich sei die alte Dame noch bei bester Gesundheit gewesen, als sie ging!
Ihre Fingerabdrücke im Hause? Ja, sie war ja dort zu Besuch gewesen! Ihre DNS an der Kleidung der Toten? Natürlich habe man sich die Hand gegeben, ja, sich zum Abschied sogar herzlich umarmt! Frau List – Dungacker lächelte und entwich dem Fragenden aalglatt. Bis heute wissen wir nicht, was damals wirklich geschehen ist. Inzwischen steht natürlich statt dem baufälligen Häuschen auf dem Grundstück eine protzige Villa, ein hässliches Trumm, weder vom Baustil noch von der Farbgestaltung in die Landschaft passend.
Frau List – Dungacker bot mir das Haus sogar zum Kauf an. „Sie haben doch genug Geld für so was,“ sagte sie lächelnd. Es war das Lächeln des bekannten Hais, der überall in den Immobilienbranchenmeeren schwimmt, und ich lächelte zurück, überzeugt, dass auch kleine Fische beißen können. „Ach, wissen sie, ich möchte eigentlich nicht in so ein blutrotes Gebäude einziehen,“ sagte ich wie beiläufig, mich schon halb wegdrehend. „Aber – das prächtige neue Haus ist doch gar nicht rot! Es ist doch modisch schwarz,“ rief die List – Dungacker aus. Ich ging von ihr weg und murmelte nur: „Für mich ist es blutrot. Aber schwarz wie der Tod? Passt auch!“ „Aber sie können mich doch nicht einfach stehen lassen! Ich war doch noch gar nicht dran,“ rief sie mir jetzt, noch lauter, nach. „Ach,“ sagte ich ruhig über die Schulter, „das wird eine junge Assistentin übernehmen. Die kann das auch und sie wollen sicher nicht wirklich von mir näher begutachtet werden. Womöglich fände ich etwas…“
Den Satz unvollständig lassend sah ich zu, dass ich durch ein der zahllosen Türen in unserem Berufslabyrinth verschwand.
Aber ich hörte noch, wie sie brüllte: „Ich werde mich über sie beschweren! Ich mach sie fertig, ich verklage sie, hören sie, verklage sie wegen Verleumdung!“
Tatsächlich? Das wollte sie tun? Wegen all dem, das ich gar nicht laut gesagt hatte? Nur zu! Aber sollte ich ihr das ins Gesicht sagen und abwarten, was ihre Reaktion wäre? Nein, das sollte und wollte ich nicht und ging weiter.