(1323.) Im Blick des Tigers des Blauen Reiters

Und der Tiger, der hat Ecken.

Er hat Streifen, ziemlich bunt.

Ecken um ihn, denn der Pinsel,

dieser Pinsel malt nicht rund.

Dieser Pinsel, der malt Würfel,

malt nur Teile, dies und das.

Und er malt dem Tiger Ecken,

das ist wirklich etwas krass.

Tiger, Tiger, er hat Ecken

Die man auch wirklich spüren kann

Spätestens, du fasst den Tiger

Und er dich dafür mit dem Zahn!

(1322.) Muriel lebt nicht mehr

Muriel lebt nicht mehr

Als ich ihn besuchte, war er sehr traurig. Er öffnete auf mein Klopfen hin nicht einmal die Türe, die aber wie immer nur angelehnt war. Ich trat ein und rief. Schließlich will man niemanden in seinem Haus einfach so überfallen! Das ist unhöflich und auch gar nicht erlaubt, was in manchen Berufssparten offenbar noch nicht in die Grundausbildung aufgenommen ist. So bei manchen Handwerksberufen, bei Einbrechern, Hausierern, Kriminalbeamten zumindest in den Filmen… Aber ich war kein Polizist und in diesem herabgekommenen Haus hätte ich auch als Einbrecher keine Schätze vermutet.

Das heruntergekommene alte Haus gehörte einer alten Dame. Die den verschrobenen Kauz bei sich wohnen ließ. Peterchen sagte sie zu ihm, dabei war Peter ein großgewachsener, kräftiger Bursche. Der irgendwann hier in der Gegen aufgetaucht war, keiner wusste, woher er kam. Zunächst hatte er in offenstehenden Scheunen übernachtet, war von dort immer wieder vertrieben worden, bis ihn Muriel, die alte Frau, die alleine in dem allmählich verfallenden Gebäude lebte, bei sich aufnahm. Manche Bauern hatten auch versucht, Peter für sich arbeiten zu lassen, aber er war zu den meisten Tätigkeiten nicht fähig gewesen, hatte steter Aufsicht bedurft, seine Fähigkeiten waren doch recht eingeschränkt. Doch Muriel kam mit ihm klar. Irgendwann hatte sie sich bei mir gemeldet, denn Peter hatte Krampfanfälle. Die freilich schon vorbei waren, als ich ankam.

Er hatte Krampfanfälle und keine Krankenversicherung. Das war ja klar! Ich versuchte, ihn gleichwohl zu überreden, ein Krankenhaus aufzusuchen. Bestimmte Untersuchungen waren jetzt angezeigt, doch was soll man tun? Er wollte nicht.

Ich versprach, wiederzukommen. Das war durchaus erwünscht, doch waren wir uns alle darüber einig, dass ich wieder versuchen würde, den Patienten einer geeigneten Diagnostik zuzuführen.

Doch nicht deshalb saß Peter auf seinem Bett und starrte vor sich hin. Zuerst dachte ich, er hätte irgendwelche Drogen genommen. Getrunken, denn das war eine meiner Vermutungen, was seine Anfälle, die ich ja nicht hatte beobachten können, hervorrufen konnte. Ach, ich wusste viel zu wenig über ihn, kannte seine Vorgeschichte nicht! Da stochert man eben im anamnestischen Nebel, weitaus weniger ergiebig, als die berühmte Suche im doch eher begrenzten Heuhaufen sonstiger, mehr oder weniger wahrheitsgemäß beantworteter Nachfragen.

Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich. Fragte wiederholt, denn auf meine Begrüßung und ersten Fragen hatte ich keine Antwort erhalten, was los sei. „Sie lebt nicht mehr,“ kam es endlich tonlos und sehr leise. Man kann sich denken, wie ich erschrak, aber er hob seinen Arm, zeigte auf etwas, das in eine Decke gewickelt dalag. Ich schrie auf: „Muriel!“ Er nickte. Neugierig schlug ich die Decke zurück. Es war die Katze, die schon seit langem hier gelebt hatte und auch auf den Namen Muriel gehört hatte. Gehört, wie es eben Katzen tun, sie ahnte, dass sie gemeint war, wenn eine Verbindung zu Katzenfutter bestand. Ansonsten hatte sie ihr halbwildes Leben gelebt, hatte Birkenmaus und Gartenschläfer, Käuzchenästling und Waldamsel getötet. Das arme Tier war gestorben, wie es gelebt hatte, es wies heftige Bisswunden auf, war wohl einem Fuchs, Dachs oder, am wahrscheinlichsten, einem wildernden Hund in die Quere gekommen.

Denn das Haus war ein ganzes Stück vom Dorf entfernt am Waldrand gelegen.

Für Muriel, die alte Dame, war Peter eine echte Hilfe, denn Besorgungen und vor allem das Beheizen des alten Gemäuers, das selbstverständlich über urige Holzöfen verfügte, war ihr zunehmend schwergefallen. Da gab es Tätigkeiten, die selbst jemand wie Peter gut übernehmen konnte. Holzhacken und -schleppen, mit einem Korb und einem Zettel zum dörflichen Einzelhändler gehen, denn der Händler konnte ja lesen, all das übernahm er. Doch jetzt saß er da und schweig. Die Trauer und das bei all seiner Selbstverständlichkeit Unbegreifliche des Todes hatten ihn überwältigt.

„Wir müssen Muriel beerdigen,“ sagte ich schließlich, fast ebenso tonlos wie Peter. Der nickte wieder, rührte sich aber nicht. Schließlich fasste ich ihn an der Schulter, fragte auch noch: „Weiß denn Muriel davon? Also, dass die Katze, dass Muriel tot ist?“ Weiter schwieg er reglos, und jetzt rüttelte ich ihn ein wenig. Der stämmige Kerl rührte sich kaum. „Komm jetzt. Wir müssen arbeiten. Die Katze begraben.“

Endlich brachte ich ihn dazu, aufzustehen. Schwerfällig folgte er mir, denn ich ging mit der Decke und der darin eingewickelten Katze voran. Draußen aber nahm Peter Werkzeug aus dem Schuppen und übernahm mit einem Mal die Führung. Er führte mich ein ganzes Stück weit in den Wald bis zu einer Lichtung und sagte schließlich: „Hier. Muriels Lieblingsplatz.“ Es war ein hübsches Plätzchen, die Sonne schien durch die Bäume, und ich nickte.

Wir begannen zu graben. Als die Grube mir ausreichend groß schien, wollte ich schon die nebenan wartend liegende Katze holen, legte meine Schaufel beiseite. Doch Peter schüttelte den Kopf: „Weiter. Wir müssen weiter graben, größer! Die Grube muss größer werden!“ Fragend sah ich ihn an. Doch Peter grub eifrig und ich bekam keine Antwort. Etwas lustlos half ich ihm, wenn er überzeugt war, dass es so richtig war, warum nicht! Doch allzu lange machte ich das nicht mit, reckte mich, verlangte, dass wir etwas zu trinken bekämen und äußerte entschieden, dass es genug sei.

Peter schüttelte den Kopf. Murmelte etwas. Ich beugte mich vor und fragte: „Was hast du gemeint? Noch größer? Warum?“ „Muriel muss ins Grab.“ „Aber das reicht doch für die Katze!“ „Nicht Katze.“ „Was?“

Peter sah mich direkt an. Ich begriff, und sah auch, dass er dies verstanden hatte. Dass ich seine Beweggründe nachvollzogen hatte, dass er nicht nur die Katze Muriel gemeint hatte. Und ich war schneller. Ich bemerkte die Bewegung, begriff auch dies: Dass er begann, mit der Schaufel für einen Schlag auszuholen, sie hochzuschwingen, und sprang aus der nun schon erheblich angewachsenen Grube! Wich aus und rannte, rannte bis zum Haus, bis zu meinem Auto, sprang hinein und fuhr davon!

Nein, ich habe nicht nachgesehen, ob das stimmte, was mir mit einem Mal klar auf der Hand zu liegen schien. Nicht nur die Katze Muriel war also tot, nein, auch Muriel, die alte Frau, der das Haus gehört hatte! Und Peter, so wie er reagiert hatte? Peter war womöglich ein Mörder. Hatte sie getötet.

Hatte er nicht mich zu töten versucht?

Mein Weg führte mich zur nächsten Polizeistation. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Ich erzählte meine Geschichte, sah den Zweifel in den Augen der Beamten, die natürlich mit so einer Räuberpistole nicht viel anfangen konnten. Entweder ich war nicht ganz bei Trost, das würde Ärger und Arbeit bedeuten, oder an meiner Story war etwas dran, ja, dann war das erst recht der Fall! Wer möchte schon so etwas kurz vor Schichtwechsel, der Kaffee läuft grad durch und ein Kollege hat versprochen, dass er etwas Nahrhaftes beisteuert. Nein, das braucht man nicht. Außerdem ist es ja nicht die Zuständigkeit der nächsten Polizeistreife, nein, in so einem Fall würde schon die Kriminalpolizei ermitteln!

Das war dann auch der nächste Schritt. Ein Anruf dort, ein Kommissar würde sich, sobald er Zeit hätte – dort war vielleicht auch Schichtwechsel – melden. Inzwischen sollte doch mal nachgesehen werden, ob an meinen Angaben etwas Überprüfbares dran sei.

Immerhin, ich bekam auch eine Tasse Kaffee. Und wartete. Tätigte meinerseits ein paar Telefonate. Schließlich saß ich hier fest.

Nach recht kurzer Zeit meldeten sich die Polizisten, die tatsächlich eine tote Katze in einer Grube gefunden hatten. Allerdings hatten sie weder Peter noch Muriel, die Frau, antreffen können.

„Ich gehe davon aus, dass sich Peter versteckt. Er ist durch meine Reaktion und die Polizeistreife bestimmt verstört! Keine Ahnung, was er in seiner Verwirrung denkt!“ Der Dienststellenleiter sah mich eigenartig an, als ich das gesagt hatte. Und fragte mich: „Machen sie sich jetzt etwa Sorgen um den Kerl, der sie beinahe mit einer Schaufel niedergeschlagen hätte?“ „Ja, klar! Das ist mein Job. Und vor allem: Wenn er so verstört ist und sich nicht zu helfen weiß, wer kann schon ahnen, was er noch anstellen könnte!“

In diesem Moment hatte ich eine Eingebung. Ich nickte mir selbst bestätigend zu und sprach weiter: „Und überhaupt, jetzt, wo ich ruhiger überlegen kann – eigentlich halte ich Peter nicht für einen Mörder, zumindest nicht für einen eiskalten, planenden. Mich wollte er niederschlagen, ja, das war offensichtlich, davon gehe ich aus, aber doch nur, weil er sich nicht anders zu helfen wusste! Wer weiß, was passiert ist. Wer weiß, ob Peter selbst Muriel überhaupt etwas getan hat. Aber er wusste halt nur, dass sie begraben werden muss, dass es Ärger bedeutet, wenn man ihn mit einer Leiche zusammen findet, alles andere hat ihn überfordert.“ „Sie haben aber die alte Frau nicht gesehen? Nicht lebend, nicht ihre Leiche?“ „Nein, ich habe sie nicht mehr gesehen. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass sie selbst das Haus verlassen hat. Ich denke schon, dass meine Annahme stimmt, dass sie irgendwo dort liegt. Vermutlich tot.“

Nun suchten die Polizisten gründlicher. Und fanden. Muriel lag auf ein paar Säcken, zugedeckt mit einer alten Decke, im Schuppen. Dankenswerter Weise überprüften die Polizisten die Vitalfunktion und stellten fest, dass Muriel bewusstlos, aber nicht tot war. Noch nicht. Alarmierten den Rettungsdienst. Allerdings war es zu spät, Muriel starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Sie hatte das Bewusstsein nicht mehr erlangt.

Die Suche nach Peter wurde jetzt intensiviert. War aber zunächst erfolglos. Einige Tage später wurde er ein paar Gemeinden weiter aufgegriffen. Er wanderte dort mit seinem kleinen Bündel, mehr hatte er nicht dabei, eine kleine Straße entlang. Auf die Fragen der Polizisten gab er keine Antwort. Ein Kommissar, ein Polizeipsychologe, alle schwieg er eisern an.

Letztlich war das ja gar keine so dumme Reaktion. Was sollte er denn mit den Fragen dieser Leute anfangen? Dieser Leute, die ihn festhielten und einsperrten.

Vorerst ging die Polizei davon aus, dass Peter Muriel getötet hatte. Oder dass es ein unglücklicher Unfall war. Sie war verletzt, aber diese Verletzungen rührten von einem Sturz her, sie war wohl eine Treppe hinabgefallen und ob dies nun nur durch Ungeschicklichkeit oder mit fremder böser Hilfe geschehen war konnte so nicht mehr aufgeklärt werden.

Ich hatte mein Erlebnis schon fast zwar keineswegs vergessen, aber doch sehr über andere Tagesereignisse in den Hintergrund gedrängt, als mich der Kommissar, der in dieser Angelegenheit ermittelte, ansprach. Ja, natürlich war ich bereit, noch einmal mit Peter zu sprechen!

Und Peter freute sich, mich zu sehen. Ich hatte ihm seinen Lieblingskuchen mitgebracht, wusste ja noch, welcher das war. Linzer Torte liebte er, vielleicht auch deshalb, weil er die auf seinen ziellosen Wanderungen ganz gut mitnehmen hatte können. Kaffee, selbst den süßte Peter noch ausgiebig, bekamen wir von den freundlichen Uniformträgern vor Ort. Dann fiel die Türe ins Schloss.

Aber wir waren nicht allein. Eine Wächterin lehnte an der Wand. „Das hat doch keinen Sinn,“ beklagte ich mich, „Peter will mir bestimmt nicht erzählen, wie es ihm geht, wenn wir hier einen Beobachter haben!“ Und erst nach weiterem Insistieren meinerseits, vorgebrachten Bedenken seitens der Polizisten war ich schließlich alleine mit Peter.

Anders als Peter bemerkte ich freilich das blinkende Lämpchen an dem Tischmikrofon. Man wusste, was wir sprachen, das war hier vermutlich so Usus, ich war ja auch kein Anwalt, der hier irgendwelche Rechte einfordern konnte. Was Peter erzählte, mochte aufschlussreich sein, ich hatte also auch keine Einwände.

Die Polizei ihrerseits war auch nicht untätig. Immerhin war inzwischen bekannt geworden, wer das Haus dort draußen erbte. Es war eine junge Familie, die zwar den Platz brauchen konnte, aber in diese alte Hütte nicht einziehen würde. Vielmehr verkauften sie das Grundstück an einen ortsansässigen Bauunternehmer.

Ging es dem Kommissar wie mir? Ich jedenfalls wurde hellhörig, als ich das erfuhr. Und besuchte Peter, aus dem ich bei meinem Besuch auch nicht eben viel Herausbekommen hatte, gleich noch einmal. „Sag mal, Peter, hat einer dieser Leute Muriel besucht,“ fragte ich ihn und zeigte ihm dazugehörige Fotos. Der Bauunternehmer war bekannt und sein Bild im Ortsanzeiger zu finden und Fotos der Familie hatte ich auch, denn auch die hatte ich besucht. Und ihnen zu ihrem Verlust mein Beileid ausgesprochen. Zunächst wussten die Leute gar nicht, von was ich sprach, erst als ich Muriel und ihr Erbe ansprach, begriffen sie. Aber besucht hatten sie die entfernte Verwandte nie. Sagten sie zumindest. Das Foto? Ach, das habe ich stibitzt. Es stand da klein und gerahmt auf einer Anrichte und als ich alleine war, war ich so frei.

Auch Peter verneinte Besuche dieser Personen. Er habe da nichts mitbekommen. Wer aber dagewesen sei, das sei der Bürgermeister gewesen. Er, Peter, habe sich versteckt, als dieser zusammen mit einer Frau gekommen sei. Sie hätten einen Blumenstrauß dabeigehabt.

Ja, der sei für Muriel gewesen. Zu einem Geburtstag, einem runden. Einer hohen, einer unvorstellbar großen Zahl, das wusste Peter noch. Dann seien diese Leute wieder gegangen und Muriel habe sehr schlechte Laune gehabt. Irgendetwas, das der Bürgermeister zu ihr gesagt habe, habe sie verärgert. Der sei auch nicht wiedergekommen. Aber diese Frau, die ihn begleitet habe, die schon.

Nun, ich bin weder bei der Polizei noch beim Geheimdienst und ein Privatschnüffler nach Art eines Hercule Poirot, eines Sherlock Holmes, einer Miss Marple (oder eines Schafes namens Maple) oder Lisbeth Salander bin ich nicht und will ich nicht sein. Ich hatte genug gehört und erzählte all das dem Kommissar.

„Sie glauben also nicht mehr, dass Peter die alte Frau getötet hat,“ fragte der mich. Ich lächelte etwas verlegen: „Nein, oder vielmehr: das dachte ich nur im ersten Moment, als ich so erschrocken bin. Danach kamen mir ja gleich Zweifel. Ich meine aber, sie sollten herausfinden, wer diese Frau ist, die da Besuche machte.“ „Vielen Dank, dass sie mir meinen Job erklären!“ „Ach bitte, nein! Entschuldigen sie mein vorlautes Vorpreschen. So doch nicht, so hab ich das nicht gemeint. Aber ich habe halt etwas Interessantes erfahren! Da kann der Normalbürger, nicht unbedingt täglich mit kriminellen Akten konfrontiert, doch mal etwas überschwänglich reagieren!“ „Schon gut. Das sollten wir wirklich überprüfen. – Und natürlich alle anderen, die dort zu Besuch waren. Sie etwa!“ „Na, das haben sie doch schon. Als das Unglück geschah, war ich nicht dort.“ „Sagen sie.“ „Sage ich. Und meine Arbeitszeiten geben das auch nicht leicht her!“ „Stimmt. Nicht leicht. Sie hätten aber dort sein können!“ „Und dann hätte ich kein Motiv.“ „Auch da stimme ich zu. Es könnte aber spontan geschehen sein, ein Unfall mehr, kein absichtlicher Mord!“ „Und ich lasse dann eine Schwerverletzte liegen? Bitte!“ „Möglich wär’s.“ „Möglich ist es. Dass ich ein Monster bin. Aber wie wahrscheinlich?“ „So wahrscheinlich, dass wir sie bisher noch nicht verhaftet haben. Aber ihre ständige Neugier in dieser Sache, ihre Suche nach einem alternativen Täter ist doch auffällig!“ „Hören sie mal! Ich bekomm beinahe eine Schaufel auf den Kopf…“ „Sagen sie. Und sitzen dann, ganz allein, in aller Seelenruhe mit dem angeblichen Gewalttäter zusammen! Dem sie Kuchen mitbringen.“ „Ach je. Sie sind doch Polizist! Wie viele Leute reagieren über, wenn sie in einer Krise stecken. Peter ist nicht gewalttätig, er wusste sich nur nicht mehr zu helfen! Solche Leute habe ich ständig. Die nicht eben über viele angemessene Reaktionsmöglichkeiten verfügen und dann kurz mal aushaken, die gemeinsame Basis zivilisierten Handelns verlassen – das kennen sie doch! Das ist doch vermutlich die Ursache der meisten Gewaltverbrechen.“ „Sie erklären mir schon wieder meinen Job.“ „Und sie bezweifeln meinen. Meine Professionalität.“

Immerhin kam Peter in ein Heim statt in ein Gefängnis. Endlich konnten seine Krampfanfälle medizinisch abgeklärt und angemessen behandelt, er medikamentös eingestellt werden. Und der Kommissar fand natürlich heraus, wer die Frau war, mit der der Bürgermeister bei Muriel war. Es war eine Mitarbeiterin der Gemeinde, eine Frau List – Dungacker.

Und ja, seinerzeit hatte der Bürgermeister Muriel gefragt, ob sie nicht lieber in das in Bau befindliche nagelneue Altersheim im Ort ziehen wolle. Und ihr Haus verkaufen. Das hatte die alte Dame so verärgert! Sie hatte auch gefragt, was dann mit Peter sei, worauf der Bürgermeister unwirsch geantwortet habe: „Der ist doch gar kein Bürger unserer schönen Gemeinde!“ Seine Mitarbeiterin hatte sich bereit erklärt, Muriel wiederholt zu besuchen und sie in die gewünschte Richtung zu bearbeiten. Immerhin war sie die Schwägerin der Frau des Bürgermeisters. Die ihrerseits die Schwester des Bauunternehmers Dungacker war.

Ob sie auch an dem Tag einen Besuch gemacht habe, an dem Muriel verunfallt sei? Bemüht sah Frau List – Dungacker in ihrem Terminplan nach und bestätigte das. Doch selbstverständlich sei die alte Dame noch bei bester Gesundheit gewesen, als sie ging!

Ihre Fingerabdrücke im Hause? Ja, sie war ja dort zu Besuch gewesen! Ihre DNS an der Kleidung der Toten? Natürlich habe man sich die Hand gegeben, ja, sich zum Abschied sogar herzlich umarmt! Frau List – Dungacker lächelte und entwich dem Fragenden aalglatt. Bis heute wissen wir nicht, was damals wirklich geschehen ist. Inzwischen steht natürlich statt dem baufälligen Häuschen auf dem Grundstück eine protzige Villa, ein hässliches Trumm, weder vom Baustil noch von der Farbgestaltung in die Landschaft passend.

Frau List – Dungacker bot mir das Haus sogar zum Kauf an. „Sie haben doch genug Geld für so was,“ sagte sie lächelnd. Es war das Lächeln des bekannten Hais, der überall in den Immobilienbranchenmeeren schwimmt, und ich lächelte zurück, überzeugt, dass auch kleine Fische beißen können. „Ach, wissen sie, ich möchte eigentlich nicht in so ein blutrotes Gebäude einziehen,“ sagte ich wie beiläufig, mich schon halb wegdrehend. „Aber – das prächtige neue Haus ist doch gar nicht rot! Es ist doch modisch schwarz,“ rief die List – Dungacker aus. Ich ging von ihr weg und murmelte nur: „Für mich ist es blutrot. Aber schwarz wie der Tod? Passt auch!“ „Aber sie können mich doch nicht einfach stehen lassen! Ich war doch noch gar nicht dran,“ rief sie mir jetzt, noch lauter, nach. „Ach,“ sagte ich ruhig über die Schulter, „das wird eine junge Assistentin übernehmen. Die kann das auch und sie wollen sicher nicht wirklich von mir näher begutachtet werden. Womöglich fände ich etwas…“

Den Satz unvollständig lassend sah ich zu, dass ich durch ein der zahllosen Türen in unserem Berufslabyrinth verschwand.

Aber ich hörte noch, wie sie brüllte: „Ich werde mich über sie beschweren! Ich mach sie fertig, ich verklage sie, hören sie, verklage sie wegen Verleumdung!“

Tatsächlich? Das wollte sie tun? Wegen all dem, das ich gar nicht laut gesagt hatte? Nur zu! Aber sollte ich ihr das ins Gesicht sagen und abwarten, was ihre Reaktion wäre? Nein, das sollte und wollte ich nicht und ging weiter.

(1321.) Horrorlektüre

Der Bruder hatte ihn gewarnt. Das dauernde, das ausschließliche Lesen dieser billigen Horrorheftchen, Geistergeschichten, Dämonenerzählungen, Hexenmärchen sei nicht gut. Es sei schlechte Literatur und es sei schlecht für den gesunden Schlaf, für eine gesunde, ausgeglichene Psyche. Aber es war wie ein Zwang, eine Sucht, er liebte es über alles. Las bis in die Nacht hinein unter der Decke, mittels einer Taschenlampe. Und lag dann stundenlang wach, fürchtete sich vor dem Schlaf und seinen Begleitern.

Aber es war ja gerade auch dieser herrliche Schauder, den er suchte. Dieses Kribbeln, das ihm das Rückgrat entlangfuhr. Ah, so einem Geist begegnen… doch dann schrak er doch zurück. Die Faust der ihn rücksichtslos, rücklings, rückhaltlos packenden Angst presste ihn, schnürte ihm die Luft ab. Leise weinend lag er da. Wecken durfte er niemanden, denn sonst wären sie mit Vorwürfen und Verboten über ihn hergefallen!

Schlief er doch ein, dann kamen sie. Schlichen sich in seine Träume. Da waren sie zu Hause, diese Wesen der Nacht.

Tagsüber schlich er herum wie ein Schlafwandler. Unausgeschlafen, lethargisch, für die Fragen der Lehrer und die Vorhaltungen der Eltern taub. Die Interessen der Gleichaltrigen empfand er als langweilig. Doch eine Gruppe etwas älterer, schon jugendlicher Typen hatte es ihm angetan. Stets dunkel gekleidet, die Mädchen, aber manchmal auch die Jungs geschminkt – aschgrauer bis schwarzer Lippenstift, düstere Schatten um die Augen. Die Gruftis, wie sie genannt wurden, die Gothic – Fans, wie sie offiziell bezeichnet werden wollten.

Warum man Gotik nicht so schreiben durfte wie üblich, wie in der Beschreibung jener Bauten üblich, auf denen Wasserspeier, die gräuliche Fratzen darstellten, saßen, erschloss sich ihm nicht, war ihm aber auch nicht wichtig.

Eines Tages saß er alleine auf einer wenig genutzten Treppe eines Kellerabgangs und las über ein augenloses Wesen, das sich von seinen Hörigen Augen wünschte, die sie sammelten, den Menschen, die sie überfielen, mit Löffeln in die Augenhöhlen fuhren, Nerven und Gefäße durchtrennten und die nun nutzlos gewordenen Gallertäpfel so entnahmen und ihrem Dämonen zum Opfer brachten.

Hinter ihm stand mit einem Mal Melissa, eine der so finsteren Gestalten und meinte abfällig: „Was liest ‘n da für’n Schwachsinn?“ „Was? Oh, du bist’s. Schwachsinn? Wieso? Mir gefallen solche Geschichten. Liest du die nicht? Was liest du denn so?“

Und Melissa nahm ihn mit sich. Nahm ihn unter ihre Fittiche. Was man fast wörtlich nehmen kann, da sie ihren Umhang breitete wie so ein Finsterfürst seine dunklen Schwingen.

Und hilfsbereit zeigte sie ihm, was sie las. Lieh ihm ihr Grimoire, dann das sechste und siebente Buch Mose‘, ja, das Papyri Graecae Magicae, Salomons Ratschläge und Rezepte, was immer sie an Libri nigri hatte und schließlich ihr Hexenbuch.

Das war faszinierend. Denn nun war ihm nicht nur ein Einblick in das wahre Wesen der bei Lichte Unsichtbaren gegeben, sondern auch zugleich der Weg zu ihrer Kontrolle aufgezeigt. Dieses und jenes einfache Sprüchlein erprobte er, verwandelte seinen primitiven Spielzeugroboter in einen Golem, indem er ihm wirkmächtige Sprüche unter die metallene Oberfläche, die er abgeschraubt hatte, klebte. Niemand ahnte die wahre Ursache, als das Zimmer des warnenden Bruders, während die Knaben brav in der Schule weilten, durchwütet und verwüstet wurde.

Die Katze der Familie, eine freundliche, mehrfarbige Minni, wurde ins Tierheim gegeben. Der Mutter war es arg, denn sie hatte das liebe Tierchen immer als Glückskatze angesehen, doch was blieb ihr übrig? Der Junge lachte, als er das erfuhr. Doch die Katze sah ihn an und sprach: „Wirst schon noch erfahren, was das heißt, Verdammter!“

Er erschrak und floh in sein Zimmer. Die Familie dachte, ihm ginge der Verlust der Katze so nahe. Aber sie war nun einmal der Hauptverdächtige, ach was, einzig verdächtig, was die Zerstörungen anbelangte. Der Katze weise Warnworte hatte niemand außer ihm verstanden. Alle hatten nur „Mriauu“ gehört.

Am nächsten Tag sollten sie eine Mathematikarbeit schreiben. Mittels seiner neu geübten Künste hatte er sich vorbereitet. Oh, dafür hatte er nicht weniger Konzentration aufwenden, nicht weniger lernen müssen, als für die dumme Schularbeit! Stunden-, nächtelang hatte er Beschwörungen gemurmelt, sich verhaspelt, hatte wieder von vorne begonnen. Aber hier lohnte es sich wenigstens. Statt für die Schule lernte er doch lieber für sein Leben als Gebieter der Schatten, der Nächte und der Mächte.

Zu spät durfte er auf keinen Fall kommen. Diese Arbeit wollte er mitschreiben, allen zeigen, was er vollbringen konnte und heimlich in sich hineinlachen, da keiner begreifen würde, auf welch geheimen Wegen er zum Meister auch der schrecklichen Mathematik geworden war! So stellte er nochmals mit Sorgfalt seinen Digitalwecker, der auf dem Nachttischchen stand. Träumte er in dieser Nacht unruhig oder war es das, was er, bereits wach, sah?

Um 7 sollte der Wecker klingeln. Er sah aber, aufgeregt ob der Arbeit und seiner ungewöhnlichen Vorbereitung, schon um 6 Uhr 59 auf die Anzeige. Und der Wecker sprang um. Auf 6 Uhr 60. Weiter auf 6 Uhr 61, dann 62, 63. Fasziniert betrachtete er das nie gesehene, das unerhörte und nach Maßgabe der die Zeit bestimmenden babylonischen Sexagesimalsysteme unmögliche Geschehen.

6.66! Der Wecker läutete! Und wie er läutete. Es war das Trommeln und Trompeten des Infernos. Sein Zimmer war hell erleuchtet. Von den Flammen, die überall emporschossen. Und aus denen sie hervorkamen, auf ihn zutraten und mit dabei züngelnden Flammenzungen hervorstießen: „Du gehörst jetzt uns. Gehörst zu uns. Komme, junger Dämon, komm und diene deinem Herrn!“

(1320.) Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen

Wahlen stehen bevor und schon beginnen die Politiker sich um das Wahlvolk zu bekümmern. Gehen zu Festen und Einweihungen, mischen sich unter die Gewöhnlichen, nutzen jede Gelegenheit zur Kontaktaufnahme. Geben ihre Überzeugungen zum Besten.

Oh, das sind geprüfte, niedergeschriebene Überzeugungen, keine beliebigen, selbstgebastelten. Die stehen schwarz auf weiß in Parteiprogrammen! Sicher, es gibt noch weitere, aber man kann ja nicht immer und überall alles erzählen, einige Stichworte müssen genügen. Er sitzt am Tisch mit einer Gruppe, die sich gut unterhält und natürlich auch auf all die Einschränkungen zu sprechen kommt, die die Regierungspolitik ihnen zumutet.

Das ist hervorragend, hier kann der Politiker arbeiten. Überzeugungsarbeit leisten. Natürlich muss er aufpassen, das ist zugleich ein Minenfeld! So viele der Zumutungen sind auf dem üppig ausgeschiedenen Mist seiner eigenen Partei gewachsen. Und zwar nicht ohne Grund. Aber natürlich ist das kein Problem für einen alten Profi wie ihn. Es gibt einfach immer die richtigen Worte.
Gerade beklagt eine noch recht junge Frau, dass sie ja noch einigermaßen, aber doch ihre Oma kaum mehr über die Runden komme. Gewichtig schüttelt er den Kopf und fügt hinzu: „Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen!“ Natürlich belässt er es nicht nur dabei, sondern geht auch darauf ein, dass man besonders den jüngeren und selbstverständlich den älteren Menschen beistehen müsse.

Gern und mit Herzblut und das meint er auch so! Weshalb er auch aufsteht, als die junge Frau mal kurz rausgeht und ihr folgt. Sie raucht? Wie passend, er doch auch. Er bietet ihr von seinen teuren Luxus – Zigaretten an. So zu zweit kann man sich ja noch viel besser unterhalten!

Kurz darauf verschwinden die beiden Richtung Toilette. Es dauert nicht lang, und er öffnet seine Hose, ihre sinkt und kurz darauf ist nur verhaltenes Stöhnen zu hören. Wer genau hinhört, kann auch so etwas wie verständliche, wenn auch gekeuchte Worte bemerken: „Der – Mensch – muss – uh! – im – Mittel- im- Mittel- im Mittepunkt sein! Punkt! Stehen! Drin. Stehen! Drin sein.“ Von ihr kommt nicht viel mehr als abwechselnd oh! und ja!

Immerhin hat die junge Frau jetzt einen neuen Job in seinem Wahlbüro. Das ist doch eine Verbesserung seiner und ihrer Lage, ganz nach dem Motto: Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen!

Die einzelnen Details seiner Steuererklärung wollte er der jungen Frau eigentlich gar nicht zeigen. Sie sollte sie nur einkuvertieren und an seine Steuerberaterin schicken. Doch mit einem Mal entwickelte die so freimütige und ihm zunächst so naiv erscheinende Helferin ein deutliches Interesse an seinen Einkommensverhältnissen und -quellen. Ja, wofür ist das Volk denn da? Um seine Politiker zu versorgen, und das bitte nicht zu knapp!

Wie kam die denn dazu, die Unterlagen zu kopieren und an einen Journalisten zu schicken? Eine Unverschämtheit!

Das würde Dementis erfordern, viele Dementis und Unterlassungsklagen und noch viel mehr! Unnötiger Aufwand und auch die Anwälte wollten Geld. Doch auch so etwas hatte einen Vorzug, er kam ins Gespräch. Schlagartig war sein Name in aller Munde!

Jetzt musste nur noch klargestellt werden, dass das alles mal wieder nur haltlose Lügen des politischen Gegners seien. Typisch, wer keine Argumente hat, der versucht sein Glück eben auf diese Weise!

Doch die junge Frau legte nach. Der Journalist behauptete, er habe sie zum Sex genötigt. „Das hab ich doch gar nicht nötig,“ beteuerte er. Was wollte diese Frau denn?

Na, sie wollte Geld. Hauptsächlich für ihre Oma. „Und dann? Geht die Erpressung weiter? Oder wie stellen sie sich das vor,“ fragte er ungehalten. Sie lächelte und überlegte laut: „Mehrere Möglichkeiten. Entweder ich bekomme eine großzügige Apanage. Oder sie heiraten mich gleich. Ich wollte immer schon mal in einem gemachten Nest sitzen!“ „Ich opfere mich hier für das Volk auf! Für die Politik! Und das ist der Dank?“ „Ach ja, die schwere Aufgabe. Der Mensch, der Mittelpunkt… ich möchte jetzt doch mal wissen, wer da eigentlich im Mittelpunkt von allem steht!“ „Na, der Mensch. Und seine Interessen. Das habe ich doch oft genug gesagt.“ „Welcher Mensch?“ Er sah sie lange an. Dann nickte er und bestätigte ihre Annahme: „Na, ich.“

Befreit lächelte sie und sagte: „Darf ich mit dort stehen? Im Mittelpunkt? – Also, ich weiß auch über den Journalisten, schließlich war ich mit dem mal zusammen, ein paar Sachen. Die würde ich dir dann sagen!“ Denn wie sich herausstellte hatte der Schreiberling nicht immer sauber recherchiert, sondern die eine oder andere Sache schlicht dazuerfunden. Das genügte dann auch, um diesen lästigen Burschen bei seinem Chef anzuschwärzen und ruhigzustellen. Er schrieb nur noch wohlmeinende Artikel, sonst wäre er in das Ressort für die Blumenwettbewerbe der Schrebergartenvereine versetzt worden.

Die Hochzeit war opulent. Es wurde eine sehr erfolgreiche Beziehung. Sowohl in geschäftlicher, als auch in jeder anderen Hinsicht. Das Paar war sich darüber im Klaren, jederzeit im Mittelpunkt zu stehen. Schließlich waren sie dieser, nicht wahr!

(1319.) Der Traum des Propheten vom Weltenrat

„Was hast du gesehen, oh unser Prophet,“ wurde er von seinen Getreuen am Morgen gefragt. Der Prophet erwiderte freundlich: „Gesehen? Gar nichts. Ich habe geschlafen, geträumt!“ „Aber in diesem deinem Traume, da wirst du doch etwas gesehen haben! Werden die Götter dich mit ihrer Weisheit gesegnet haben!“ „Ja? Na, wenn ihr meint.“ Und er erzählte seinen Traum, obwohl er sich nicht sicher war, ob dies klug war.

Er hatte vom Weltenrat, vom Wesen und Wirken der Mächtigen, vom Weltenschöpfer und –vernichter, geträumt.

Als der große, vielhändige und vielgestaltige Gott nach einem Umlauf des Rades des Weltenlaufs wieder einmal verharrte, verschnaufte, um in menschlichen Worten und Metaphern zu bleiben, als er, wie ihm bei einer Vollendung des Weltenlaufs geläufig, alte und neue Worte und Begriffe wiederholte, neuformte, Mantras und Sutras in sich wiederhallen ließ,  und wir kennen ihn genug, zu wissen, daß er seine treue Gemahlin, die todfinstere Kali, wiederbelebte, die zornwilde Durga zu zärtlicher Ruhe brachte indem er das ganze Kama-Sutra mit ihr herauf- und herabbetete, als, sagte ich, die Zeit gekommen war, da überdachte er die neue, die noch bessere, schönere Schöpfung, die ihm anheimgestellt war. Mit großer Aufmerksamkeit und großen Erwartungen verfolgten die ewigen, die Götter und Dämonen seine Anstalten zur Neuschöpfung, nimmermüde der ewig wiederkehrenden Handlung beizuwohnen, dem großen Werk, dem großen Werde des machtvollen Shiva. Der lieblichen Gattin Parvati, beglückt, Abschied für kurze Äonen winkend, zart ihren Leib, die Spitzen der Brüste halb streichelnd, halb zwickend erinnernd an gewesene, an werdende Lust erhob sich der gewaltige, der Weltenschöpfer zu neuem Werde. Er schuf, er sprachs, er formte die Welten neu, die Bestimmungen und Gesetze, die Meere und Berge, das Sein. Dann aber kamen jene, die eigener, bewußter Beseelung, Bewegung eingedenk gefragt, angehört sein wollen beim Weltengericht, was ihr Ziel, ihre Bestimmung sei. Die minderen Geister, die Seelen alle, sie fragten nach neuer Heimat, nach neuem Auftrag, nach neuer Hülle. Da sprachen vor die Vielgeliebten, die Friedfertigen, die alle die Götter lieben und achten und auf ihr Wohlgedeihen achten. Sie sprachen, sie wollten nicht aggressionslüsterne Zweibeiner, begabt über alle durch Finten und Technik, erdacht zu überwältigen die anderen, zu quälen ihresgleichen, mehr sein. Da freute der Rat der allgewaltigen Gottheiten sich, trompetend Ganesha und jubelnd alle die Götter des Liebens, des Wachsens und Shiva ermahnte sie, die Friedfertigen, zu Sein nach dem Willen der Götter, dem Wunsch ihrer und ihres wundersamen, welt- und gottgefälligen Geschenkes wohl zu achten.

Und er erschuf neu und weiß, wundersam wollig die lieblichen Schäfchen.

Da trabten, fröhlich blökend, die seligen Pazifisten hin zu grasen und zu lieben und nichts als Sanftmut zu sein in dieser Welt. Ruhig, seiner großen Tat bewußt, nach einer Metapher erschöpft lehnte sich der mächtige Schöpfergott zurück. Doch die Dämonischen kicherten und fragten, ob denn alle Arbeit getan. Dann ließen sie aus ihren Verstecken zwischen Nirwana und Nichtswürdigkeit ihre Getreuen, die wahren Menschen, die Schützen und Mörder, Vergewaltiger und Staatsmänner, Krieger und Gläubigen und wie die Gewalttätigen alle hießen. Die frommen, die sanfteren Götter erschraken. Doch ungeheuer gewaltig erhob sich Shiva. Und donnernd fragte er nach ihrem Begehr. Da zagten die sonst Rasenden und duckten sich vor dem unbegrenzten Tänzer des Rades, dem Vielarmigen, Vielfältigen, Vielfähigen und keiner wagte die Rede! Zagend nur erhoben Dämonen ihr Haupt und wisperten von Recht und Verantwortung und einem Platz an der Sonne, Platz in der Welt. Da lachte dröhnend der Gott und sprach: „Es ist nur wenig noch übrig. Die schöneren Welten, die schönsten Rollen, sie sind besetzt. Wehe, das schönste Geschenk, ich habe es vergeben! Nun, listige Dämonen, wozu ratet ihr, welche Gestalten wollt diesen ihr geben?“ So sprach Shiva, laut lachten die Götter, doch listig bedankten die Dämonenfürsten sich und schufen, nach ihrem Bilde, Gräßliches und Grausames und scheinbar Schönes und Einleuchtendes und Begehrenswertes und entließen die zur Freude der Finsteren gewesenen Seelen in die Welt. Da eilten Tiger und Wölfe, da kroch Krokodil und würgende Schlange, da kam das Entsetzen, da kam das Grauen, der grause Tod wieder in die Welt. Da tanzte wild Durga und kicherte scheppernd Kali, doch Shiva schüttelte sein Haupt und Ganesha ließ traurig seinen Rüssel hängen. Auch fragte im Rate ein weiser Alter in ärmlichem Gewande, ein mageres Männchen: „O Herr, daß Du dies zulässest. So wahr ich Mahatma genannt werde, was ist der Sinn von alledem, was der Lohn der Getreuen, der Friedfertigen?“ Da wandelte auch Shiva sich. Es erschien das Rad. Vom Weltenschöpfer zum Weltenzerstörer tanzte er sich und rief: „O daß Du fragest, Getreuer! Euer sei dies, euer Geschenk, Opfer zu sein und Hymne des Guten, Leidtragende und saftiger Braten der Wilden, Gewalttätigen! So war es, so ist es, so wird es euch gegeben, was habt ihr anderes gewählt? Gut sollt ihr sein, ihr Festspeisen der Fleischfresser, zart, so ist es euch gegeben, das ist euer Geschenk!“ Und Mahatma, der Alte, verhüllte sein Haupt und erwartete zagend das Drehen, das Knirschen des Weltenrades, neues Gebären, Werden, Vergehen, Zerstörung der Welt und ihr Ende in Schrecken, in Leiden zur immerwährenden Freude, zur Unterhaltung, zur Kurzweil der dauernden, der unsterblichen Götter.

„Oh Prophet,“ riefen da die Getreuen, „was sollen wir aus diesem Traume lernen?“ „Lernen? Ihr wollt schon wieder etwas lernen? Ich fürchte, gar nichts. Es war nur ein Traum.“ „Aber gewiss will uns dein Traum etwas sagen!“ „Hm. Ihr lasst nicht locker, wie? Na gut, dann dies: Oh, ihr allzeit Wißbegierigen! Ihr habt die Wahl, Löwe oder Schaf.“ „Nun, Löwe sein ist besser.“ „Ja? Bedenkt, es gibt mehr Schafe als Löwen. Und die Schafe werden die Löwen auch überdauern. Alleine schon, weil es Hirten gibt, die sie beschützen. Und ausnützen.“ „Haben es dann die Schafe besser?“ „Wie gesagt. Sie werden die Löwen, die kämpfen, gegen die Hirten und gegeneinander, überdauern.“ „Also besser ein Schaf als ein Löwe!“ „So gesehen, gewiss. Das hat aber nichts mit dem angsterfüllten Leben des einzelnen Schafes zu tun.“ „Oh weh! Was ist das Rechte?“

Der Prophet, er war ein wenig müde, lächelte in sich hinein und sagte leise: „Gut wäre es, ein Dämon oder gar ein Gott zu sein, einer der Unsterblichen. Aber das ist nicht so einfach. Immerhin braucht man dazu etliche Gläubige, die einem das Zutrauen!“ „Oh, wir sind Gläubige,“ riefen die Getreuen, und der Prophet lächelte wieder.

„Wie schön,“ sagte er, zwinkerte und verschwand, schwebend auf einer Wolke. Die sehr an ein paar schneeweiße Schäfchen erinnerte, die nicht leicht an dieser Last trugen. Man hörte noch einige Zeit das Blöken, manche glaubten auch, zu vernehmen, dass der Prophet rief: „Sorry, Leute, aber ich brauch mal eine Pause!“ Andere freilich meinten, zu hören: „Und so gehorcht meinen Worten, wie ihr sie gehört habt!“

Man konnte sich nicht darauf verständigen, was nun tatsächlich zu vernehmen gewesen war. Nur dass der Prophet auf einer himmlischen Wolke, mit der Zeit verklärten sich die Schafe dann auch zu Engeln, entschwebt sei, darüber bestand auch noch im heftigsten Streit Einigkeit.

(1318.) Nakl, Gott der Heilkunst

„Was ist mit dir?“ „Ich kann nicht mehr! Ich habe einen Krampf!“ Josef, der hinzukommt, nickt bedächtig: „Das ist wegen des Nakl!“

Er sagte natürlich, „des is zwengs dem Nakl!“ Aber wir verwenden hier, wenn auch nicht durchgehend, eine annähernd synchronisierte Fassung, um Verständnisproblemen vorzubeugen. Und der Josef setzte sogar noch hinzu: „Wia beim oidn Jakl, der dumms Zeig gred hod. Den homs fuatdoa und wiedakemma is a ned, zfui gsuffa homms gsogt, dia Leit!“

Der Sportlehrer sah ihn verständnislos an. Er war kein Hiesiger und hatte eben diese Probleme oft. Er verstand seine Schüler nicht. Nicht ihre Sprache, nicht ihr Gebaren, ihr Verhalten. Am Allerwenigsten Verständnis hatte er freilich für mangelnden sportlichen Ehrgeiz. Und auch hier waren seine Schüler nicht eben vorbildlich!

Zwar hatten ihm Kollegen bedeutet, das liege unter anderem daran, dass der in der ersten Stunde zu sportlichen Höchstleistungen angespornte Knabe nicht etwa ein früh pubertierender Faulpelz war, der seinen Tagesablauf von so etwas Lächerlichem wie Hormonen abhängig machte. Sondern dass diese Jungen vielleicht schon seit 4 oder 5 Uhr wach waren und bereits die Kühe gefüttert hatten oder was immer man auf so einem Bauernhof halt macht.

Auch hier fehlte dem aus der Großstadt stammenden Sportlehrer jedes Verständnis. Dafür aber wusste er nur zu gut, was ein Krampf ist. Und konnte dem Betroffenen helfen. Doch fragte er, eigentlich wissend, dass das nicht unbedingt eine gute Idee war, nach: „Was meint der Josef mit dem Nakel?“ „Da Sepp? Mit dem Nakl? Des is doch des, wos uns gsund macht,“ erwiderte Franz, dessen krampfendes Bein allmählich weniger schmerzte. Jetzt war Fritz Piefental, der Sportlehrer, nicht klüger geworden. Was hatten diese Jungens nur gesprochen? Weder die Worte noch die Aussage, soweit er sie verstanden glaubte, waren ihm einleuchtender geworden.

Im Lehrerzimmer stellte er also die Frage nochmals: „Weiß einer von euch, was ein Nakel ist?“ Auch hier Verständnislosigkeit. Aber bemüht, hinter die Geheimnisse der Schülerschaft zu gelangen, wollte man nun mehr hören. Also erzählte Fritz.

„Beim Ausdauerlauf bekam der Franz einen Krampf. Das war schnell behoben, aber dann kam der Josef dazu und erklärte, dass das mit einem Nakel zu tun habe.“ Brigitte Monshüchen, die Kunstlehrerin, war besorgt und warf ein: „Er wird doch nicht einen Nagel gemeint haben? In den der arme Junge getreten ist?“ „Nein, nein! Das ist irgendwas Geheimnisvolles. Das einmal schuld an dem Krampf sei, sie dann aber wieder gesund mache. Ein Talisman? Eine Art Gott der Heilkunst, ein hiesiger Äskulap vielleicht? Irgendeine Überlieferung, ein Wald- oder Berggeist, dem man Opfer bringen muß?“

Die Lehrerschaft war ratlos. Letztlich ließ sich das Rätsel nicht lösen. Doch es ließ den wissbegierigen Vermittlern des Wissens keine Ruhe. Brigitte sprach den Pfarrer darauf an, der zunächst auch nur sagen konnte, dass er davon noch nie gehört habe. Aberglaube sei in der Region stark verbreitet, aber der Begriff ihm vollkommen fremd. Später sprach er im Dorfkrug auch mit dem Arzt und dem Bürgermeister darüber, doch keiner wusste in dieser Sache Bescheid. Ein Nakel oder Nakl? Nie gehört!

Der Fachlehrer für Chemie und Biologie hatte noch nach seinem letzten, nicht so ganz geglückten Experiment, das seiner Klasse viel Freude und ein vorzeitiges Ende der Stunde beschert hatte, aufräumen müssen und erfuhr erst mit Verspätung von dem Vorfall. Er war entsetzt und rief aus: „Ein Gott der Heilkunst, ein Götze? Das würde ja passen! Wie soll der nochmals heißen?“

„Nakel,“ sagte Fritz. „Nakl,“ sagte Brigitte. Der naturwissenschaftlich Vorgebildete stutzte. Hakte nach, fragte: „Wie bitte? Und langsam!“

„N – A – K – L,“ buchstabierte Brigitte. Und mit einem Mal begann der Chemielehrer zu lachen. Lachte und brachte kein Wort mehr heraus, klatschte sich auf die Schenkel, kicherte schließlich und brachte nur nach und nach hervor: „Und auch der Dorfarzt kam nicht drauf? Na! Aber ich saß ja genauso auf der Leitung!“ Die Kollegen starrten ihn an. Da hatte wohl der Nakl einen bösen Zauber ausgeübt. Oder zumindest war dieser Mann hier verrückt geworden!

Endlich hatte er sich so weit beruhigt, dass er ganz Sätze am Stück hervorbrachte und erläutern konnte: „Wenn mich nicht alles täuscht, dann haben die Jungs in typischem Halbverständnis da eine vernünftige Erklärung zur Krampfentstehung geliefert!“ Immer noch verstand keiner. Aber nachdem man Josef und Franz dazugeholt hatte fragte der Biologielehrer: „Was ist das gewesen, was dem Franz gefehlt hat?“ „Nakl,“ antworteten beide wie aus einem Munde. Damit war der Lehrer nicht ganz zufrieden: „War es nicht eher ein anderes Mineral, etwa Mg, Magnesium?“ „Ach,“ sagte der Josef, „das kann schon sein. Aber das sind so viele, die haben wir uns nicht alle gemerkt!“ „Aber das Kochsalz schon!“ „Kochsalz?“ „Na, Natriumchlorid, NaCl!“ „Nakl? Ja! – Sie haben doch gesagt, das braucht man unbedingt, sonst stirbt man! Also ist das wichtig! Am Wichtigsten!“ „Sicher. Doch die anderen Mineralien, die Mengen- und die Spurenelemente braucht man auch. Und von jedem möglichst die Menge, die dem Körper guttut. In dem Fall wird es wohl hauptsächlich Magnesium gewesen sein, das dem Franz an dem Morgen gefehlt hat!“

Franz und Josef nickten eifrig. Was hätten sie sonst tun sollen? Der Lehrer sprach, wie die meisten, so gern über sein Fach. Und es war ja auch nicht uninteressant, immerhin erzählte der Verkäufer von Viehfutter und – arzneien Ähnliches. Aber man hatte so viel zu lernen! Weshalb die Knaben längst beschlossen hatten, all den Stoff auf das Nötigste zu beschränken. Und diese verschiedenen Substanzen unter dem Namen des Häufigsten zusammenzufassen.

(Ähnlichkeiten weisen z.B. auf: auch Kap. 8, 12., Lehrer und Schüler im Zwiegespräch, 264., Pablos Friedenstaube, 297., Insofern es im weiten, blauen Meer Inseln gibt, 1313., neulich in der Schule)

(1317.) Sommerteich

(aufgrund der Priorisierung des Inhalts, immerhin war der Arbeitstitel sommerliches Erschrecken, nicht nach formalen Kriterien in Kap. 7, sondern in Kap. 4 eingestellt)

Sommerliches Erschrecken

Im Teich schwimmt der Laich,

der Laich ist so weich.

Das Waten im Wasser

Erfrischt und erschreckt

Wenn Peter die Anna

Mit Laichschnüren neckt.

Im Gebüsch steht der Robert,

er steht ganz allein.

Das kann und das wird ihm

So recht wohl nicht sein.

Im Teich schwimmt ne Leich,

die Leich ist jetzt weich,

die Spuren schon verschwommen,

versunken, ganz benommen

stehn die Eltern nahebei.

Was zu sehn? Einerlei,

Am Sonntag im Dorfkrug,

davor an den Gruben

wird man ja bestimmt klug.

Wer war’s von den Buben?

(1316.) Die drei von der Parkbank

Drei Herren sitzen auf einer Bank. Es ist ein schöner Tag, die Sonne scheint und die Vögel singen, Jugendliche rattern auf Gefährten mit ungefederten Rädchen über waghalsige Hindernisse, schreien ob ihres ungekannten Wagemutes und lassen dazu ohrenbetäubenden Lärm aus kompakten Beschallungsgeräten dröhnen, so dass sowohl Gesang als auch Geratter übertönt wird.

Trotz dem Lärm unterhalten sich die Drei. Das heißt, sie reden. Jeder redet, sagt beispielsweise so etwas wie „weißt du noch, damals.“ Jeder erzählt, und manchmal verstehen die anderen ein paar Worte. Das genügt meist auch, denn sie kennen sich schon sehr lange! Sie sind zusammen aufgewachsen. Sie gingen zusammen zur Schule. Verliebten sich, oft gemeinsam in dasselbe Mädchen. Stritten sich, vertrugen sich. Lernten verschiedene Berufe. Einer wurde Kaufmann, einer Mechaniker, einer Monteur.

Sie heirateten, jetzt verschiedene junge Frauen. Kinder kamen, oh, die sind jetzt schon lange groß! Ehekrisen kamen und gingen, Ärger mit den Schulen der Kinder gab es, und Streit zwischen den Dreien. Denn es war nicht so ganz klar, wurde auch nie endgültig geklärt, ob nicht der eine bei dem anderen zu Hause ein wenig zu oft ein- und ausging, wenn der Hausherr gar nicht zu Hause war. Trotzig schwiegen die Frauen, trotzig die alten Freunde.

Wieder versöhnte man sich. Dann gab es Schwierigkeiten im Beruf, die Wirtschaftslage war nun einmal so, und die jeweiligen Unternehmen sorgten dafür, dass sie Ballast abwarfen, altbewährte Mitarbeiter loswurden. Junge, engagierte Leute sollten kommen, die von Nichts eine Ahnung hatten und sich nicht mit dem Betrieb identifizierten. Diese passten besser zu den jungen, smarten Chefs, die ebenfalls dem Idealbild entsprachen.

Schließlich waren die Drei öfter im Wirtshaus als zu Hause. Wieder gab es Streitigkeiten, die über längere Zeit fast nur in Alkohol gelöst wurden. Doch irgendwann hatte einer eine Idee. Eine schlecht laufende, etwas heruntergekommene Tankstelle, der Pächter war abgesprungen und in der Folge dann auch der Konzern, der diese Anlage bisher sein Eigen genannt hatte, konnte übernommen werden!

Die Drei waren bodenständig und arbeitsam. Sie brachten die Tankstelle mitsamt Reparaturbetrieb wieder auf die Gewinnspur. Ob Traktor oder Kleinwagen, hier hielt jeder aus dem Dorf, tankte nicht nur und kaufte Zigaretten oder was immer er sonst an Kleinwaren nötig hatte, ließ sein Fahrzeug reparieren und noch mal und noch mal durch den leidigen TÜV bringen. Nein, darüber hinaus tauschte er auch Neuigkeiten mit den Dreien von der Tankstelle aus, so dass diese auch über Informationen verfügten, die ebenso viel Kundschaft anlockte, wie das übrigen Angebot.

Zeitweise arbeiteten auch die heranwachsenden Kinder und die Frauen mit. Doch dann änderten sich die Zeiten abermals. Immer mehr Leute mit genug Geld zogen hierher in die Randgebiete der Kleinstadt. Das waren selbstredend Pendler, die irgendwo nahe ihrer Arbeitsstellen tankten und sich nicht sehr für den Tratsch aus der Umgebung interessierten. Die Kundschaft wurde weniger.

Und schließlich sahen sie es ein. Sie waren ja auch schon alt, Keiner wollte die Tankstelle übernehmen und so gaben sie den Betrieb auf. Und trafen sich seither hier, auf der Parkbank.

Und erzählten sich davon, wie es früher gewesen war. Zu dritt an der eigenen Tankstelle. Vorher in irgendwelchen Betrieben, in den Familien, noch früher, wie sie ihre Frauen kennengelernt hatten oder andere Mädchen, von den Kindern erzählten sie und schließlich von ihrer eigenen Kindheit, Schulzeit.

Und verstummten schließlich. Keiner hörte ihnen zu. Nicht ihre Kinder, nicht ihre Frauen, nicht die im Park lärmenden Jugendlichen. Was hatten sie schon Interessantes zu erzählen?

Es war ja wahr. Nicht einmal gegenseitig hörten sie sich zu. Denn sie kannten ja all die alten Geschichten der anderen und ihre eigenen zur Genüge. Und als sie bemerkten, dass sie sich selbst nicht mehr zuhörten, wenn sie die ewig gleichen Geschichten zum Besten gaben, da verfielen sie in Schweigen, endeten die Worte. Und die drei auf der Parkbank blieben stumm.

(1315.) Beiläufige Texte und Gedichte VII

Von den Gefangenschaften

Wer schon einmal in so einem Gefängnis war und sei es nur ganz kurz als zwar ein-, aber doch vorübergehender Besucher, und der dabei nicht ganz ohne Empfindungen und Phantasie ist, weiß das. Allein das Geräusch, wenn die Metalltüren ins Schloss fallen und man genau weiß, wenn der Typ mit dem Schlüssel nicht wieder aufmacht… dann ist man hier gefangen. Verloren. Wie die Maus in der Mausefalle. Nichts, gar nichts kann man selbst entscheiden, tun, gelangt selbständig nicht an Nahrung, nicht in die Freiheit, nicht in regulären Kontakt mit Mitmenschen.

Das ist bitter. An die anderen Gefängnisse haben wir uns weitgehend gewöhnt. Ihnen mangelt zum Teil die sichtbare und so eindeutige Begrenztheit des tatsächlichen Gefängnisses. Jahrelang üben wir in der Schule, in einer Lehre und, idealerweise etwas lockerer, im Studium unseren Trott, bis wir nicht mehr ohne können (meiner Meinung nach einer der Gründe, warum so viele kurz nach Erreichen des Rentenalters (noch, es wird ja ständig erhöht, um diesen Effekt zu reduzieren, denn warum sollten sie die Leute das Rentenalter erreichen?) den Löffel abgeben).

Wir erleben unser Leben, unser Berufsleben und den ganzen Rest nicht als Gefängnis. Warum schätzen wir dann die meist lächerlichen und nutzlosen Kurzzeit – Ausbrüche, Ferien oder Urlaub genannt, so sehr?

Und warum schauen wir mit so viel Neid und gleichzeitig verachtungsvoller Wut auf die Außenseiter, die (echten) Aussteiger, die Subkulturen?

Weil wir meist in vielen kleinen Gefängnissen leben, die wir nur deshalb nicht als solche erkennen wollen, weil sie keine festen Metallgitter besitzen und weil wir zwischen den Rollen, zwischen den Zellen wechseln dürfen und müssen.

Wohl dem, der seine Gefangenschaften zumindest schon einmal erkennt, ohne gleich ausgebrochen zu sein. Aber wir alle verstehen eigentlich den, der seine Zelle nicht verlässt. Was erwartet ihn da draußen? Freiheit? Eigenverantwortung? Not, Verlassenheit, völlige Entfremdung in einer desinteressierten oder feindlichen Welt? Worauf könnte er sich verlassen, stützen? – Nein, einfacher ist es, sitzen zu bleiben.

Das Lebensspiel

Die Sonne scheint belebend. Ein Würfelspiel auf dem kleinen Tisch – huch! Schon wieder einer hinabgerollt! – auf dem kleinen Balkon? Jetzt?

Was sind das für seltsame Würfel? Wie viele Seiten, Zahlen haben die?

Einer ruhe in sich selbst. Das ist wichtig, denn ohne das ist der Mensch, ins Sein geworfen, rasch und ganz verloren. Und doch, so ganz allein? Ja, zu zweit versichert man sich seines Daseins, geht Vieles besser und wenn zwei eins werden, wird die Welt rund – aber eh man sich’s versieht, sind es drei! Und schon ist es mit der Ruhe allein, zu zweit vorbei.

Doch auch die Drei ist nur eine Zahl und allein und sucht und findet und wir gelangen immer weiter, vier, fünf… ich fürchte, der Balkon ist dafür zu klein. Meine Lieben, sucht euch selbst einen Balkon mit einem Tischchen, zwei Stühlen und Würfeln, dann könnt ihr das Spiel fortführen, so lange ihr wollt.

Und wir, wollen wir nicht etwas anderes spielen? Ohne uns zu vervielfachen? Etwa Memory, so langsam müssen wir anfangen zu trainieren, ich höre die Würfel der Jungen klappern und du weißt, was das bedeuten kann… ja, genau, die ganz Kleinen würfeln noch nicht, aber sie merken sich jede Geste, jedes Wort, jede Karte mit ihrem alles memorierenden Gehirn.

Der wahre Name der Rose

Der Name der Blume

der Name der Rose

der Name der Tulpe

und der Orchidee

sind Geheimnis der Weisen,

Geheimnis der Gärtner,

nein, Geheimnis

der Blühenden

selbst.

Man muss sie regelmäßig ausführen

Sie muss regelmäßig raus und ihr Geschäftchen machen, dessen Ergebnis ich dann in dieser Tüte mit mir herumschleppe. Alleine kann ich sie nicht laufen lassen und sie ist zu groß, um sie in mir zu tragen. Von wem ich rede? Von Coni, die ich hier an der Leine führe. Ja, Coni ist eine Abkürzung, fast schon ein Kosewort. Sie heißt richtig Conscientia und ist eine ganz eine Liebe. Sie dürfen sie ruhig streicheln, machen sie sich kein Gewissen draus. Aber von der Leine lasse ich sie nicht, nein. Wenn sie frei läuft wird sie übermütig und kann dann schon mal übers Ziel hinausschießen. Bis ich sie dann wieder eingefangen und handzahm habe… Da kann sie schon mal kognitive Dissonanzen beißen. Kommt vor und ich hab dann den Ärger. Nein, nein, sie muss wissen, wer sie an der Leine hat und ihr Futter gibt. Ja, in der Haltung ist sie teuer. Klar kann man sie mit billigem Süßkram ablenken, etwa den albernsten Serien im Fernsehen, aber immer nur eine Zeitlang. Dann verlangt sie wieder nach ihrem hochwertigen Futter, etwa alten Philosophie – Schwarteken. Das geht ins Geld, sag ich ihnen!

Legen sie sich lieber einen Hund zu, als so ein Gewissen. Oder irgend so einen elektronischen Begleiter.

Triggerwarnung

Hey, Digga

Gewarnt vorm Trigga:

Das haut voll rein,

das Zeug ist fein!

Was ich da mein?

Kannst rein gehen,

wirst schon sehen,

doch sei so lieb,

Schein rüber schieb…

Insektenstich.

Oder: Allergie? Hatte ich auch schon.

Als mich der Allergologe fragte, ob es eine Biene oder eine Wespe gewesen sei, antwortete ich: „Also, das Tier flog mir in den Nacken und stach zu – vorgestellt hat es sich nicht! Da aber kein Stachel steckte gehe ich mal davon aus, dass es eher eine Wespe gewesen ist.“ Denn die Bienenstachel, widerhakenbewehrt, bleiben bekanntlich mitsamt dem ganzen Giftapparat meistens in der Haut stecken.

Drei Jahre lang dauerte die Desensibilisierung. Ich war, wie immer im Sommer mit dem Fahrrad unterwegs, weitergefahren, hatte es nach dem Stich noch bis in mein Büro geschafft. Die Erste, die mir entgegenkam, sah mich entsetzt an und sagte nur: „Ich hol eine Ärztin!“ Ich nickte nur, legte mich im Büro auf ein paar rasch zusammengeschobene Stühle.

Die Messung, etwa eine dreiviertel Stunde nach dem Stich? RR 100 : 100, und wir wissen alle, dass das Absinken des systolischen Werts unter und das Ansteigen des diastolischen über die ominösen 100 mit dem Begriff Schockzustand versehen wird. Wieder nickte ich nur, trank etwas und meldete mich krank. Zum Glück haben wir in der Region eine Klinik, die sich auf Allergien spezialisiert hat, aber dort wurde mir die obige Eingangsfrage gestellt.

Heute könnte mich eine Wespe stechen und voraussichtlich gäbe es keine solch übertriebene Reaktion mehr. Ist auch schon passiert. Aber Freunde, nein, Freunde werden wir nicht mehr! Es bleibt, wie ein Widerhaken, eine Grundangst, die leicht in aggressive Handlungen umschlägt. Schließlich auf beiden Seiten und schon befinden wir uns mitten in einem nicht mehr kontrollierbaren Konflikt.

Angst- oder Endgegner

Es gibt tolle Fotografen. Insektenfotografen! Eine Seite besuche ich regelmäßig. Und, was soll ich sagen? Abgesehen von den großartigen kleinen Geschöpfen begeistern mich auch immer die Namen. Lassen an folgende uralte afrikanische Fabel denken, die mir gerade ganz neu eingefallen ist: Ein streitsüchtiger, pubertärer Elefantenbulle, vermutlich zum ersten Mal in der Musth, randaliert durch die Gegend, fällt Bäume, trampelt alles nieder. Plötzlich kommt er an ein Hüttchen, auf dem Klingelschild steht, dass hier der große Breitrüssler wohne!

Der Elefantenbulle, noch nicht ganz ausgewachsen und erst vor kurzem endgültig von seinen Tanten aus der Kindheit verjagt, wird ganz still. Kleinlaut schleicht er davon. Mit dem will er sich dann doch nicht anlegen!

(Käferart Langfühler – Breitrüssler oder auch großer Breitrüssler, Platystomos albinus (Synonym Anthribus albinus))

Rezeptvorschlag

Maienglocken blühen fein, nimm sie nicht mit rein in das Rezept mit Bär und Lauch das alt schon, lange im Gebrauch. Sonst endet Liebe und Geschmack mit einem Male – zack.

Fabel vom Verleumden

Es war einmal ein mächt’ger Leu von einwandfreiem Leumund. Zum König sollte er gewählt werden, und die Churfirsten kamen zusammen. Als da waren Tiger und Wolf, Bär und Panther, nicht zu vergessen, auf dass die Sieben voll werde, Vielfraß, Otter und das listenreiche Wiesel.

Der Fuchs, der aufgrund seiner Schelmenstreiche nicht zugelassen worden war, er sei unedel im Verhalten und rieche außerdem so streng, verbreitete derweilen unter den Tieren die Botschaft, dass sie unter diesem Könige nur gefressen würden. Alsbald wurde die Botschaft auch bei Hofe bekannt und alsogleich ließ das Wiesel Herolde ausreiten – es waren Spatzen, die das Verlangte lauthals von allen Dächern riefen, geritten sind sie auf Schwänen, weil das eindrucksvoll aussah -, die die königliche Wahrheit verkündeten: der wahre Übeltäter sei doch, altbekannt, der Fuchs, und wer recht hinsehe, sehe noch die Gänsefeder am Maule kleben!

Nun war der Verleumder überführt, wurde seiner gerechten Strafe zugeführt, man spricht hier von Fuchsprellen, und die königliche Ordnung wiederhergestellt. Niemand muss sich mehr fürchten.

(1314.) Verfolgungsjagden

Zwei Rehe in Kreisen –

Wärs später im Jahr

So würd ich ja sagen,

die Liebe sei da!

Doch früh ist der Morgen

Und auch so das Jahr,

kühl ist das Wetter,

Tau liegt, s ist klar

Hier toben schlicht Kämpfe

Um Futter und Platz.

„Hier wohnt doch schon wer,“

Nur darum die Hatz!

Geschrei und Gerenne!

„Der Platz, der ist mein!“

Hier muss einer Sieger,

Verlierer einer sein.