(1324.) Feigenblatt – Peter

„Das? Das ist Feigenblatt – Peter! – Ich sage ja lieber Lorbeerblatt – Peter zu ihm. Denn wie man unschwer sehen kann, ist das eher ein Lorbeerzweig, den er sich da umgebunden hat.“

„Warum…?“

„Warum er keine Feigenblätter nimmt? Keine Ahnung. Vielleicht will er damit was sagen. Sie wissen schon, Lorbeerkränze und so.“

„Ich weiß nicht. Er kommt mir eher schüchtern vor. Fast verängstigt. Aber das war auch nicht meine Frage. Ich wollte wissen, was er hier tut.“

„Unser Peter? Ja, das fragen viele. Dabei genügt es doch, ihn zu sehen. Er ist eben auch so ein Schaustück. Wie der große Gorilla.“

„Der sich aber keine Lorbeerblätter vorne hinhält!“

„Obwohl seiner gar nicht so eindrucksvoll ist, meinen sie?“

„Nein, natürlich nicht! Ich meine, dass damit Peter doch zeigt, dass er kein wildes Tier ist! Sondern einer von uns!“

„Meinen sie?“

„Ich weiß ja nicht, wo ihr den Lorbeerblatt – Peter aufgegriffen habt…“

„Das war ein Schiff, das vom Kurs abgekommen war. Und auf einer unbewohnten Insel Frischwasser suchte. Dort lebte der Peter. Ganz allein.“

„Ein Schiffbrüchiger! Eine Art Alexander Selkirk alias Robinson Crusoe!“

„Das dachten die auch zuerst. Aber dann stellte sich heraus, dass der Knabe die Menschen floh, wenn sie ihn fingen, um sich schlug und biss!“

„Angst. Raue Seeleute, die ihn jagen. Das versteht man doch!“

„Ja? – Und auch, als er sich beruhigt hatte, keinen vernünftigen, verständlichen Laut herausbrachte. Also ein Tier ist!“

„Das ist doch Unsinn. Sie können doch das Menschsein nicht an einigen Fähigkeiten festmachen.“

„Aha! Aber an einem umgebundenen Lorbeerzweig?“

„In Ordnung. Aber Stumme gibt es viele.“

„Wir sind ein zoologischer Garten, wir stellen wilde Tiere aus.“

„Schön. Aber Menschen, wiewohl sie unstrittig Tiere sind, ohne besonderen Grund einzusperren, das ist einfach nicht in Ordnung! So geht man nicht mit Angehörigen der eigenen Art um.“

„Ihre Meinung.“

„Ich dachte eigentlich, das sei die Mehrheitsmeinung. Eine ethische Vereinbarung. So wie das Verbot, dass wir uns gegenseitig aufessen.“

„Jedenfalls suchten die Seeleute noch lange.“

„Ja? Nach was?“

„Ob unser Peter wirklich ganz alleine war.“

„Auf seiner Insel? Nun, als Schiffbrüchiger…“

„Anscheinend war er ganz alleine.“

„Das ergibt sich fast aus der Geschichte.“

„Und das ist nicht in Ordnung.“

„Es ist nicht in Ordnung, dass er in einem Gehege eingesperrt ist!“

„Es ist ein schönes Gehege. Eine Art Garten.“

„Zugegeben. Ein paar Hühner, ein paar Kaninchen…“

„Haben wir schon versucht. Er hat sie alle gegessen.“

„Oh. Auf den ersten Blick wirkt er so harmlos.“

„Das freut mich, weil…“

„Weil? He, au!“

„Hoppla, hab ich sie geschubst?“

„Ja, brutal gestoßen! Helfen sie mir gefälligst hier wieder raus! Hoch!“

„Oh nein. Sie bleiben. Wir sind uns sicher, dass sich Peter schon lange Gesellschaft wünscht. Von seiner Art, wie sie ja so schön ausführten.“

„Sie sind ja wahnsinnig!“

„Und hören sie auf, diese Geräusche von sich zu geben, die doch niemand versteht! Meinetwegen sagen sie Uh – uh oder so etwas!“

„Was? – He, machen sie den Wasserstrahl da weg! Verdammt, das tut ja weh!“

„Immer, wenn sie Verbotenes tun, etwa sprechen, kommt der Wärter mit dem Wasserstrahl! Wir können das sogar noch stärker stellen, das ist ein Feuerwehrschlauch, der hält das gut aus!“

Ich kauerte mich in eine Ecke. Zitterte, durchnässt wie ich war auch vor Kälte, dann aber auch vor Angst, aus dieser albtraumhaften Situation nicht mehr herauszukommen. War das wirklich so gemeint gewesen? Dass ich hier mit Peter zusammen sein sollte? Mit ihm ein wenig Adam und Eva spielen sollte? Was für ein Irrsinn! Oder wäre ich ihm gar ein Kaninchen?

Jedenfalls war ich ihm ausgeliefert. Und mit einem Mal kam er mir gar nicht mehr so harmlos vor, wie vorhin noch, von außerhalb seines Geheges.

Peter war genau so erschrocken wie ich. Er hatte sich in den hinteren Bereich verzogen, versteckte sich vor den Wärtern oder auch vor mir. Zumindest unmittelbar ging von ihm keine Gefahr aus.

Ich sah mich um. Ein Baum war besonders groß und seine äußersten, freilich da schon gefährlich dünnen Äste ragten über die Begrenzungsmauer hinweg. Ich nickte grimmig und stand auf. Ging zu dem Baum und begann zu klettern. Etwas, das Menschen zwar etwas schwerfällig, wenn man sie mit den anderen Primaten vergleicht, aber doch ganz gut können.

So etwas hatte ich schon lange nicht mehr getan. Einfach auf einen Baum zu klettern. Entsprechend ungeschickt stellte ich mich an, aber ich kam doch vorwärts, höher, saß einigermaßen unbequem in einer Astgabel und verschnaufte, kletterte weiter.

Ich war schon ziemlich hoch, als mich der Wasserstrahl traf. Ohne Vorwarnung. Er warf mich einfach vom Baum, ich fiel und prallte hart auf. Es war grasbewachsener Boden, aber trotzdem blieb mir beim Aufschlag die Luft weg. Ich wäre liegengeblieben, war mir auch gar nicht sicher, ob ich mir nicht irgendetwas gebrochen hatte, aber der Wasserstrahl folgte mir. Trieb mich weg und so kroch ich hinter den Baum, der mir einigermaßen Deckung vor meinen Peinigern bot.

Doch die waren noch nicht zufrieden. Mit langen Stangen, die, wie ich noch erfahren sollte, elektrische Schläge auszuteilen vermochten, stocherten sie im Versteck Peters umher und trieben ihn von dort weg, in meine Richtung. Knurrend und aufheulend sprang er vor den ihm wohl bekannten Schmerzreizen davon und auf mich zu. Ich stand auf. Ein zähnefletschender Nackter, ein schmächtiges Kerlchen, aber, wenn ich mir seine Muskeln so ansah, bestimmt stärker als ich, stand vor mir.

Musste ich mich verteidigen? Was war eine Geste des Friedenswillens? Ich hob beide Arme ein wenig und hielt meine Hand so, dass die flache, offene Hand nach vorne zeigte. Immerhin war das die Geste dessen, der aufgab, auch die dessen, der zeigte, dass er keine Gegenstände in Händen hielt. Die ja womöglich Waffen wären.

Peter zuckte zurück. Wirklich verstanden hatte er meine Zeichen nicht. Er nahm eine lauernde Stellung ein, misstraute mir. Nun, er hatte allen Grund dazu. Bisher hatte er keine guten Erfahrungen mit seinen Mitmenschen gemacht.

Ich lächelte ihn vorsichtig an. Vermied es dabei, die Zähne zu zeigen. Und setzte mich wieder.

In dieser Haltung verbrachten wir einige Stunden. Ich fror erbärmlich. Ließ Peter nicht aus den Augen. Und er mich nicht.

Als die Sonne mich erreichte, breitete ich die Arme aus und begrüßte die Wärme. Langsam wurde es zu warm und ich zog meine Jacke aus. Was die weitere Trocknung beschleunigte, aber noch war mein dünnes T – Shirt, es war ja kein kalte Jahreszeit, recht nass. Peter, den ich für einen Augenblick nicht beachtet hatte, kam näher und starrte mich an. Das heißt, eigentlich nicht mich. Sondern einen Punkt. Zwei Punkte, mag sein. Ich sah deutlich, dass ihm ein Speichelfaden zum Mundwinkel herauslief.

Sollte ich meine Jacke wieder anziehen? Verdammt, ich war der Situation ausgeliefert! Ihm ausgeliefert, auch wenn er das bisher noch nicht begriffen hatte. Aber gewissen Anzeichen sprachen dafür, dass es bis zu diesem Begreifen, in jeglicher Hinsicht, nicht mehr lange dauern konnte.

Immerhin, ich war nicht das Kaninchen. Im Moment machte ich mir keine Sorgen, dass er mich töten und aufessen würde. Davon abgesehen machte ich mir freilich Sorgen. Gedanken, die auch einschlossen, dass ich mich mit Peter besser gut stellen sollte.

Ein „nicht jetzt“ oder ein „nicht hier“ konnte ich mir wohl sparen. All die Präliminarien der zivilgesellschaftlichen Partnerwahl konnte ich hier wohl als obsolet abtun.

Anscheinend waren keine Wächter mehr hier. Vermutlich war es Zeit für das Mittagessen. Und ich entschied mich. Zog auch die übrige, ja immer noch feuchte Kleidung aus. Peter auch. Das heißt, sein Lorbeerzweig bewegte sich ganz von selbst von ihm weg. Ich zeigte darauf und lachte. Peter erschrak erst, dann begriff er entweder, dass das ein freundliches Lachen gewesen war, zumindest gewesen sein sollte, denn ganz wohl war mir bei der Sache ja keineswegs, oder er begriff immerhin, was er wollte.

Kurz darauf war mir nicht mehr kalt. Zwar zog ich einen Teil meiner Sachen wieder an, aber ich ging nun mit Peter Hand in Hand durch das Gehege und er zeigte mir seine Schlafstätte – vermutlich würden wir es künftig da treiben! – und andere Plätze.

Er zeigte mir sein Reich. Nahm mich auf.

Man kann unmöglich behaupten, dass ich glücklich war, glücklich mir mir, mit meinem Schicksal und dem was ich zugelassen hatte. Aber unzufrieden war ich nicht. Denn ich hatte Peter auf eine freilich nicht eben originelle Weise befriedet, zu meinem Verbündeten gemacht und war für den Augenblick erfrischt, gewärmt, sicher.

Das ist viel wert.

Der Wärter, der mich in die Grube gestoßen hatte, konnte es nicht lassen. Er zeigte uns den Film, den sie mit versteckter Kamera aufgenommen hatten. Und der mir die Schamröte ins Gesicht trieb. Natürlich waren wir die ganze Zeit beobachtet worden! Hämisch bemerkte er: „Ihr kapiert das ja nicht, ihr seid ja Tiere, primitive Tiere!“ Warum zeigte er ihn uns dann?

Folterknechte sind nicht nur gemein, sie sind auch dumm und begreifen den Widersinn ihrer eigenen Handlungsweisen nicht. Oder doch? Sind sie so hinterlistig, dass sie einem noch diese letzte Sicherheit, was man ist, nehmen wollen? Eine gequälte Kreatur ohne eigene Würde und sowieso ohne Rechte. Oder mehr ein dem Bösen ausgelieferter Mensch. Ecce Homo.

Belassen wir es bei Adam und Eva. Zwei Menschen, die sich gefunden haben, weil sonst eh niemand da war. Langsam wurde es Nacht. Und ich bedeutete Peter, dass ich nicht hierbleiben wollte. Dass wir nochmals auf den großen Baum, der übrigens ein Apfelbaum, vermutlich eine wilde Sorte, ein Holzapfel etwa, war, steigen sollten und versuchen, bis zur und über die Mauer zu gelangen.

Wo Mauern erbaut werden beginnt das Unverständnis. Mauern sind zu überwinden. Nicht mit waffenstrotzender Gewalt, nicht mit voller Arglist gebohrten Tunneln, nein, mit der ausgestreckten Hand. Also der Hand, die ich Peter, die er mir hinhielt.

Peter war viel geschickter als ich. Er kroch liegend vorwärts auf dem Ast, scheute nicht die Rinde, die an seiner nackten Haut schabte – natürlich hatte ich meine Kleidung an und sie erwies sich durchaus als hinderlich, andererseits als Schutz – und sprang schließlich jenseits der Mauer hinab. Ich folgte ihm, zögerlich, ängstlich, ich war heute schon einmal hier hinabgefallen und spürte meine blauen Flecken noch deutlich, wirkte steif und verkrampft, aber schließlich schaffte ich es auch.

„Der gute, alte Apfelbaum! Immer wieder hilfreich. Was die hier wohl mit der Erkenntnis machen, dass man die Mauer überwinden kann?“ Wir eilten in die Richtung, in der ich den Ausgang vermuten durfte. Schließlich war es erst wenige Stunden her, dass ich hier zu einer Besichtigung eingetreten war.

In diesem Moment schallten Lautsprecherdurchsagen durch die Parkluft. „Der Park ist geschlossen. Das Personal hat in seinen verschlossenen Gebäuden zu bleiben. Wie jede Nacht öffnen wir jetzt, um den Park zu sichern, die Gehege der Raubtiere.“

Überall war das Quietschen und Rattern zu hören, das die automatische Öffnung von Türen und Toren begleitete. Tiergeräusche, die man eben noch gehört hatte, verstummten.

Wir standen in der Dunkelheit und in vollkommener Stille. Ich sah Peter an. Er hatte nichts begriffen. Er verstand diese Sprache nicht, vielleicht keine Sprache. Ich nahm ihn bei der Hand und zog daran, stieß hervor: „Lauf, Peter! Wir müssen rennen!“ Und zog ihn, rannte los.

Außerhalb des geschützten Gartens ist die Welt voller Gefahren und Ungewissheiten. Der Weg bis zum gewiss verschlossenen Ausgang war noch lang. Und draußen, da würde Peter mit der wirklichen, der heutigen, der Welt voller Wunder und Überraschungen konfrontiert werden.

Erst jetzt fiel mir auf, dass er seinen Lorbeerzweig gar nicht mehr umgebunden hatte. Das wäre dort draußen ein Problem, aber das war im Moment unwichtig. Es galt, schneller zu sein als die Schnellen, geschickter als die Gewandtesten, zielbewusster als jene, die im Dunkeln sehen und all ihre scharfen Sinne auf leichte Beute richten mochten.

Da ich diesen Bericht niederschreibe liegt Peter eingerollt und schlafend vor mir auf einer Matte. Nackt und ohne seinen Lorbeerzweig, doch ich habe ihm meine dünne Jacke als Zudecke übergeworfen. Ich schreibe dies im Licht des über die Mauer scheinenden Mondes. Die Raubtiere waren zu sehr mit ihrer eigenen Sicherheit, mit dem Spähen nach Konkurrenten und Feinden beschäftigt gewesen, wir waren schneller als sie gewesen. Aber das war ja nur eines der sich stellenden Probleme. Wie soll es weitergehen?

Autor: gerlintpetrazamonesh

Ich schreibe Texte und veröffentliche sie. Selbstverständlich, bitte beachten, unter Copyright, also keine gewerbliche Verwendung ohne Einverständnis, private Verwendung gestattet, aber mit Nennung des Autors! Da bin ich stur, es mag ja sein, es ergibt sich noch die eine oder andere Möglichkeit, einen meiner Texte ( um nur die Naheliegenden zu erwähnen: Literaturnobelpreis, Hollywood...) weiter zu verwenden! Selbstverständlich, nicht wahr. So selbstverständlich wie der Autorenname, wie sich der eine oder andere gleich gedacht hat, wie man heute sagt Fake ist, so ein P-Name - ganz ehrlich, so heiß ich nicht, nicht richtig, nicht wirklich. In dieser Realität, z.B. in Ausweispapieren. Aber hier, für meine Geschichten, da nennt mich Petra. Nur der Vollständigkeit halber, die Person auf dem Bild, und hier muß ich mit der Änderung des Bildes schnell auch den Text ändern, das bin nicht ich, sondern mein selbstgewähltes Wappentier, nebenbei schon seit Kindertagen. (Vormals lautete der Text zum da noch passenden ersten Bild, na ja, halt auch so ein Vierbeiner, im Blog: die Dame vom See, das bin auch nicht ich und es ist nur ein Gerücht, dass sie mir einen Füllfederhalter namens Excalibur aus dem Gewässer apportierte. Aber das war ja auch ein Hund, ein richtiger Hund - auch mein Hund (hätte ich sie Morgana le Fay nennen sollen? Vielleicht den Nächsten) - an einem Alpensee, der, nein, die, die hätte das auch gekonnt, nämlich Excalibur apportieren, so ein toller Hund!) Bestimmt schreibe ich auch über sie mal was, aber: Dackel, um das klarzustellen, sind keine Hunde. Zumindest nicht im herkömmlichen, landläufigen Sinn. Dackel sind Wesen höherer Art, wobei boshafte Menschen oft auch einwenden: niedrigerer Art. Aber dazu in ungefähr, also keine Sorge, jedem 100. Textbeitrag mehr! Also gleich im ersten, ersteingestellten, der hier der automatischen Reihung nach der Allerletzte ist. Was jeder Dackel gleich versteht.

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